Vom Somportpass nach Puente la Reina (hier als pdf-Datei)

 

Jakobsmuschel-Wegweiser



Wie es dazu kam,
dass ich mich auf den Jakobsweg machte.

 

Nun muss ich vorausschicken, dass ich als Nachkriegskind in eine Zeit geboren wurde, in der Lebensmittel zugeteilt wurden und alles rationiert war. Als Kleinkind bekam ich Kinderlähmung und in der Folge einen geminderten und seitenungleichen Muskelaufbau. Das hat mich von körperlichen Aktivitäten anderer Kinder weitgehend ausgeschlossen. Beim Schulsport war ich immer der, der bei Mannschaftsaufstellungen als Letzter "gewählt" wurde. Geräteturnen war mir die Hölle, weil es nicht nur an der Kraft sondern auch an der Koordination fehlte. Im Laufe der Zeit entwickelte ich lediglich eine gewisse verbissene Zähigkeit und Ausdauer. Später versuchte ich aus Gründen der zwischenmenschlichen Beziehungen, die eine oder andere Sportart für mich zu entdecken. Mein Schwager war z.B. begeisterter Fußballer, also nahm er mich mit. Beim Training entdeckten die anderen natürlich sofort mein Manko, so dass der Ball - zu meiner Erleichterung - nie absichtlich zu mir gespielt wurde und ich mich völlig darauf konzentrieren konnte, den mir zugewiesenen Gegenspieler dadurch zu verzweifeln, dass ich ihm "bis auf die Toilette" folgte und "auf seinen Füßen" stand. Nur wenn der Ball mal per Zufall vor meine Füße rollte, bekam ich Panik, weil ich wusste: der Versuch, das Spielgerät fußballerisch zu behandeln, wird in einer Lachnummer (Ball nicht getroffen) oder in einer Katastrophe (eigenes Tor getroffen) enden. Nun ja. Mittlerweile bin ich Gleitschirmflieger geworden. Da benötigt man körperlich nicht viel mehr als die Fähigkeit, beim Start zehn Meter geradeaus laufen zu können.
Ich bin - und das will ich mit Obigem gesagt haben - körperlich eher schwächlich, aber durchaus ausdauernd.

Mein Jakobsweg begann jedenfalls damit, dass ich mir im Februar 2005 für 4,95 Euro das Taschenbuch "Iacobus" der spanischen Romanschriftstellerin Matilde Asensi als Bettlektüre zulegte.

Taschenbuch "Iacobus" der spanischen Romanschriftstellerin Matilde AsensiDarin geht es darum, dass im Jahre 1317 ein Ritter des Hospitaliterordens von Papst Johannes XXII. den Auftrag erhält, herauszufinden, wo sich das Gold der Templer befindet, das seit der Zerschlagung des Ordens spurlos verschwunden ist. Ritter Galceran macht sich auf die Suche, wobei ihm ein verschlüsseltes Dokument den Weg nach Spanien weist. Entlang des Camino de Santiago, des berühmtesten Pilgerweges des Mittelalters, will er fündig werden.

Der Roman als solcher ist schon spannend erzählt, noch faszinierender für mich waren aber die im Kontext der Geschichte des Spätmittelalters geschilderten Wege- und Ortsbeschreibungen mit der daran festgemachten Leistungsfähigkeit und Ausdauer der Pilger. In meinem warmen Bette eingemummelt, beschloss ich, diese Wege "irgendwann einmal" abzugehen, dabei meine Ausdauer einer gehörigen Prüfung unterziehend.
Der Gedanke war aber wohl nicht ausgeprägt genug, um sich genügend nachdrücklich gegen andere "wichtige" Vorhaben durchzusetzen, weshalb er mal auftauchte (... ach ja, da war doch was ...), um aber gleich wieder zu versinken in den Tiefen meines Gehirnkastens.

Dann kam Petras Krebserkrankung.

Es folgten 8 harte Monate mit Chemo- und Strahlentherapie für meine Frau, in denen ich vor lauter Angst und Arbeit (seltsame Konstellation?) keinen auf mehr als 5 Stunden in die Zukunft gerichteten Gedanken fassen wollte. Ständig in Sorge und auf dem Sprung: Wie ein in die Enge getriebenes Mäuschen. Und wollte doch gleichzeitig Petra gegenüber den Fels in der Brandung darstellen. Nun ja ... . Sie hat mir aber mit ihrer grenzenlosen Zuversicht immer wieder aus diesem Jammertal herausgeholfen.

Als uns dann im Juli 2006 die behandelnden Ärzte aller Fakultäten unisono mitteilten, dass meine tapfere und starke Frau die Tortur überstanden hat und es keine Metastasezeichen mehr in ihrem Körper gäbe, war ich doch sehr erleichtert, froh und glücklich. Und in das überstrahlende Glücksgefühl mischte sich Dankbarkeit: In die Kunst der Ärzte, in die Errungenschaften der Arzneimittelforschung, in das Durchhaltevermögen meines Weibleins und in ... tja ... Gottes Beschluss, mir meine Petra zu lassen.
Da kam er wieder, der Gedanke an den Jakobsweg. Diesmal allerdings schon in Richtung "pilgern". Sozusagen, um meinem Dank eine Ausformung zu geben.

Dass und wie Hape Kerkeling bei Johannes B. Kerner im TV über seinen Jakobsweg berichtete, hat mich zwar schwer beeindruckt. Aber nicht wirklich in meiner Entscheidung beeinflusst, wie es einige Freunde vermuteten, denen ich von meinem Vorhaben erzählte. Ich wollte und will dem Hape nichts nachmachen. Der hat - wenn ich das Interview richtig verstanden habe - aus einer ganz anderen Lebenssituation heraus und sinnsuchend den Weg gemacht.

Jetzt sollte es also in die Planungsphase gehen. Also PC eingeschaltet, ins Internet eingeklinkt und nach "Jakobsweg" gegoogelt. Du meine Güte: 1.340.000 Treffer.
Immer noch 438.000 Angaben gab es bei "Jakobsweg Spanien". Erst bei "Jakobsweg Somport" (weil ja mein ritterlicher Held die Route über den Somport-Pass gewählt hatte) kamen überschaubare 600 Treffer zustande. Daraus suchte ich mir Angaben zusammen zu Anreise, Wegstrecken und Ausrüstung und kam vorerst zu folgendem für mich passenden Ergebnis:
Man kann mit der Bahn nach Pau (Frankreich) und von dort mit dem Bus hoch zum Somport-Pass fahren. Oder mit dem Flieger nach Pamplona, von dort mit dem Bus nach Jaca und mit dem Taxi zum Somport-Pass.

Bei der Klärung der Frage, ob ich mich als ungeübter Wanderer auf meinem Weg entweder von Pilgerherberge zu Pilgerherberge oder aber von Hotel zu Hotel fortbewegen sollte, kam ich recht schnell über die entsprechenden Erfahrungsberichte meiner Vorpilger zu dem Schluss, dass ich mir die zusätzliche Erschwernis "Pilgerherberge" ersparen sollte. Da war vom Kampf um die Liegen die Rede, vom Nächtigen auf blankem Boden, von wenig hygienischen Verhältnissen und anderen schrecklichen Begebenheiten. Och nö, das wollte ich für mich dann doch nicht haben. Da traf es sich gut, dass ich bei meiner internetten Suche den Reiseveranstalter Vuelta fand, der (als Ein-Mann-Betrieb ansässig in Hannover) Rad- und Wandertouren in Spanien organisiert.
Der Inhaber Jürgen Müller war schnell angerufen und bereit, eine auf mich und meine Möglichkeiten zugeschnittene Tour (wie fitt sind Sie denn?) unverbindlich vorzuschlagen, die mir sozusagen wie die Faust aufs Auge passte. Ich hatte nämlich vorab nach einem Billigflieger Hannover-Pamplona gespürt und einen kostengünstigen Hin- und Rückflug gefunden, der allerdings an den 10.9. (Hinflug) und den 18.9. (Rückflug) gebunden war. Dieses günstige Angebot hatte mir schon deshalb zugesagt, weil es zum einen im September stattfinden sollte (alle Berichte nannten den September als den angenehmsten Monat zum Wandern in Spanien) und es zum anderen sicher stellte, dass ich an meinem Hochzeitstag (19.9.) wieder bei Petra sein würde.
Damit war auch klar, dass ich meinem Ritter Galceran nachfolgen konnte, der den Weg über den Somport-Pass gewählt hatte und nicht - wie Hape Kerkeling - den über St. Jean-Pied-de-Port. In Puente la Reina fügen sich die beiden Zubringer, der von St. Jean-Pied-de-Port her kommende Navarrische Weg und der in Somport beginnende Aragonesische Weg, zum eigentlichen Camino de Santiago zusammen. Also sollte es auf meiner 7-Tage-Tour erstmal bis Puente la Reina gehen, immerhin knapp 200 km. Den "Rest" von 650 km bis Santiago de Compostela würde ich im nächsten Jahr angehen.

Na siehste woll.

Der Handel war schnell gemacht: Flugtickets gekauft, Tour bei Müller gebucht ... alles paletti? Ach nee, die Ausrüstung fehlte ja noch.

So ging es also wieder ins Internet, wo sich die diversesten Vorschläge bezüglich dessen, was ein Pilger so mit sich rumzuschleppen hat, fanden: Sendungsschreiben der eigenen Kirchengemeinde (ich bin doch gar nicht in der Kirche), Neues Testament (kleine, leichte Ausgabe), Familienfoto, Foto von Haus und Garten, Kopien mit ein paar gregorianischen Chorälen und geistlichen Liedtexten, mannshoher Pilgerstab (zur Abwehr gegen Hunde) ... ja, wie denn, wo denn, was denn? ... also, die ganze Heiligenscheinverbrämung lassen wir schon mal weg, den Hundeprügel ebenfalls (ich verstehe mich bestens mit Tieren) und dann mal konzentriert voran. Was braucht man denn nun tatsächlich?

Ein nach guter Beratung im Outdoor-Laden durchgeführter Einkauf ließ mich folgendes nach Hause tragen: 40-L-Rucksack mit ergonomischem Tragesystem, 2 Wanderstöcke mit Federung, 1 Paar Wanderstiefel, 1 Regenponcho mit Ausstülpung für den Rucksack, Isomatte und Schlafsack (weil an einer Etappe lediglich eine Pilgerherberge als Nachtquartier zur Verfügung stehen würde), 1 leichte Trekkinghose, 1 Trekkingunterhose, 1 Trekking-Shirt.

Einen Hut mit Krempe gegen Sonneneinstrahlung und Regenguss hatte ich noch von der EXPO 2000 zu liegen. Fleeze-Pulli, Goretex-Jacke, Unterhose und Jogging-Anzug (vom Aldi) wenn die Trekking-Sachen grad nass vom Waschen sind, Filz-Pantoffel (damit die Wanderstiefel gleich nach Etappen-Ankunft zum Trocknen ausgezogen werden können) und einen kleinen Kulturbeutel (bestückt mit Shampoo, Rei in der Tube, Seife, Zahnputzgedöns und Leukoplast) sowie ein Mikrofaser-Badetuch waren ebenfalls schon vorhanden. Zusätzlich noch Mückentötolin (Autan) und Sonnencreme. Diese beiden Teile hätte ich aber auch zu Hause lassen können, weil es - im Gegensatz zum Misburger Wald, in dem ich meine Trainingsrunden drehte - keine einzige Mücke auf meiner Spanientour gab, und weil dort im Baskischen die Sonne an 7 Tagen insgesamt nur für 4 Stunden auf mich herabscheinen sollte.

PilgerpassGanz wichtig (ohne jede Kirchweih) ist ein Pilgerpass. Dieser allein berechtigt zum Nächtigen in Pilgerherbergen. Und dieser hat auch viele freie Felder, in denen die Stationen eingestempelt werden, die man schon durchlaufen hat, damit man dereinst in Santiago de Compostela den Nachweis des Pilgerns erbringen und neben einer ornamentierten Pilger-Bestätigung auch eine Jakobsmuschel empfangen möge. Meinen Pilgerpass habe ich mir gegen eine Spende von 5,- Euro (sie wollten aber eigentlich nur 3,50) über das Internet von der Jakobus Pilgergemeinschaft Augsburg ausstellen lassen. Man verlangte dabei von mir lediglich die Erklärung, den Geist des christlichen Pilgerns, meine Mitpilger, meine Gastgeber und die Natur zu respektieren. Alles Selbstverständlichkeiten, so dass ich allesamt freimütig gelobte (und auch einhielt, wie ich rückschauend beschwören kann).

Wie gesagt: ich drehte Trainingsrunden. Natürlich unter "echten" Bedingungen, wie ich meinte. Denn immerhin hatte ich das volle Gepäck nebst 1,5 Litern Wasser dabei (der Rucksack brachte es dadurch auf 10 kg) und außerdem waren die hiesigen Touren auch immer so um die 25 km lang. Dabei suchte ich in unserem verregneten August die Tage aus, die Sonneneinstrahlung verhießen, denn es wartete ja Spanien auf mich mit dem dort sehr heiß brennenden Zentralgestirn. Hätte ich auch nur im Entferntesten geahnt, welches Wetter mich in Spanien erwarten sollte, wäre ich besser an den reichlichen Regentagen hier gegangen. Naja, man kann nicht alles haben.

Die Ausrüstung war also komplett, die Schuhe eingelaufen und ich voller Tatendrang und Willenskraft.

Abfahrt zum FlughafenFür die Ausarbeitung meiner Tour hatte sich Jürgen Müller einfallen lassen, mich in der Nacht nach Ankunft in Pamplona (10. auf 11. September) sowie in der Nacht vor dem Abflug aus Pamplona (17. auf 18. September) im selben Hotel nächtigen zu lassen. So kam mein kluges Frauchen auf die Idee, mein Rucksackgeraffel nebst Wanderzubehör sowie noch zusätzliche Klamotten für den Rückflug ("du wirst doch nach den sieben Wandertagen froh sein, normale Kleidung anziehen zu können") in unseren geräumigen Hartschalenkoffer zu packen, damit ich diesen dann bis zur Rückkehr im Hotel deponieren könne. Das gefiel mir so gut, dass ich nicht nur extra Klamotten für den Hinflug angezogen sondern auch noch welche für den Rückflug und reichlich Lesestoff eingepackt habe.

Bei strahlendem Sonnenschein wuchtete ich also am 10.9.2006 um 10.30 Uhr meinen Koffer in unseren alten Daimler (mein Weib weigert sich hartnäckig, den Opa Omega zu fahren, weil der ein Automatikgetriebe hat, sie aber lieber selbst im Getriebe rumrührt). Schnell noch ein Abschiedsfoto  und ab nach Langenhagen zum Flughafen, wo irgend ein oberschlauer Werbestratege ausgerechnet am krachorangefarbenen Tower den Schriftzug MAYDAY in riesigen Lettern als Werbung für eine Autovermietung hat anbringen lassen. Ich frag mich da nicht nur, was der internationale Notruf "Mayday" mit einer Autovermietung zu tun hat (die Autos werden ja wohl nicht in einem nach Hilfe schreienden Zustand sein), krachorangefarbener Tower mit Schriftzug MAYDAYsondern mich würde auch mal interessieren, was denn so ein Pilot einer - sagen wir mal - Cessna (die da ja auch starten und landen dürfen) bei sich denkt, wenn er erstmals im Landeanflug auf Hannover plötzlich MAYDAY lesen muss.
Blöde gibt es wohl überall. Mannmannmann.

Nun denn. Das Einchecken war auch sehr nett. Ich hatte ja ein Online-Ticket und wurde deshalb gleich zur grenzschützenden Gepäckkontrolle durchgewunken, wo man meinen Koffer durchleuchtete. Diesmal hatte ich außer dem Geldbeutel ALLES in den Koffer gepackt, weil mir beim letzten Flug ein als Taschenmesser verkleidetes Maniküre-Set abgenommen worden war mit dem Hinweis, das Messer habe eine Klingenlänge von zwei Zentimetern. Damit könne ich bequem die eine oder andere Halsschlagader durchtrennen, was ich nicht dürfe. Mein Gegenargument, dann müsse ich auch meine Zähne abgeben, weil die ebenfalls zum Nagen an Hälsen geeignet seien, wollte man damals nicht gelten lassen, weshalb das schöne kleine Taschenset im Fundus des BGS landete.
Beim EincheckenNach der Durchleuchtung bekam mein Koffer mit Hilfe einer Umlege- und Abschnüreinrichtung ein stabiles weißes Kunststoffband umgewürgt. Damit der Koffer während des Fluges nicht aufgeht, sagte die Zöllnerin. Damit ich den Koffer nach Durchleuchtung nicht noch mal öffnen und mit verbotenen Dingen bestücken kann, wusste ich besser. What shalls: wenn's der Sicherheit dient, wird man gern mal belogen.

Dann kam die Stunde des Abschieds von meinem Weiblein. Wir genehmigten uns beide einige Tränchen, bestätigten uns unsere Zuneigung und Liebe, und schon war ich allein.
Flieger nach BarcelonaSo schlenderte ich also in den Wartebereich und spähte nach einem Flieger der Linie Iberia. Unten auf dem Vorfeld neben dem Zusteigerüssel stand aber nur ein VW-Bus und ein kaum größeres Gebilde mit Flügeln, dass bei näherem Hinschauen auch tatsächlich den Schriftzug IBERIA offenbarte. Gebilde mit Flügeln? IBERIA? Das wird doch nicht? ... doch!! ... meiner Treu ... ein richtiger Flieger. Eine CANADAIR REGIONAL JET 200. Mit dem Fassungsvermögen eines kleinen Reisebusses: 40 Passagiere plus 4 Frau/Mann Besatzung. Das Abenteuer kann beginnen.

Nach der Zwischenlandung in Barcelona wurde es noch lustiger. Dort wartete eine DE HAVILLAND DC-8 zum Weiterflug nach Pamplona. Mit richtigen Propellern. Der Typ wurde - glaube ich - auch damals bei der Luftbrücke ins blockierte Berlin eingesetzt. Heißa.DC 8

Es war aber alles sehr nett. Die Stewardess sprach spanisch und ein für mich unverständliches SpEnglisch. Meine Linguistik ist bei ihr aber offensichtlich ebenso kauderwelsch angekommen, so dass ich frei drauflos kommunizieren konnte, ohne Gefahr zu laufen, wegen sprachlicher Missgriffe eine Maulschelle zu fangen. Trotzdem bekam ich etwas zu essen und zu trinken.

Im übrigen scheinen die Spanier aber nichts davon zu halten, den einen oder anderen Euro zu verdienen. Man stelle sich das vor: bei uns stehen vor jedem Kiosk mindestens zwei Taxen in Kundenerwartungposition. Dort am Flughafen in Pamplona, wo zu vorher bekannten Zeiten pro Tag fünf oder sechs Flüge ankommen, wartete NICHT EIN Taxi auf die Fluggäste. Wer nun denkt, dass das am gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr in Pamplona liegt, der Taxen insbesondere am Flughafen überflüssig macht, fehlt weit. Keine Bushaltestelle, keine Straßen-, U- oder S-Bahn. Gar nix.

Irgendwann muss es sich dann aber doch in Pamplona herumgesprochen haben, dass da ca. 40 Piepel gegen Bares zu befördern seien, denn es tauchten so im 5-Minuten-Abstand einzelne Taxen auf, so dass ich etwa 1 1/2 Stunden nach Ankunft in Pamplona mein Hotel erreichte. Der Flug von Barcelona nach Pamplona hingegen dauerte nur 50 Minuten. So what.

Meine Überraschung im Hotel war nicht sonderlich groß, als ich feststellen durfte, dass der Hotelier nebst Gattin und Gesinde außer in navarresischem Spanisch und lupenreinem Baskisch in keiner weiteren Sprache parlieren konnten. Und dabei musste ich ihnen doch noch meine Absicht nahe bringen, meinen Koffer für die Zeit der Wanderung im Hotel zu belassen und erst am Tag meiner Abreise wieder mitzunehmen.
Im Hinblick auf die dabei gemachten Erfahrungen spreche ich mich hiermit vehement dafür aus, im vereinten Europa EINE obligate Amtssprache (z.B. deutsch) einzuführen, deren grundzügliche Beherrschung vor allem Hoteliers zur Verpflichtung gemacht werden muss.
Du gute Güte. Es war nichts zu machen. Meine Gegenüber schüttelten auf alle meine Ansprachen - egal ob in Deutsch, Englisch oder Langenscheidts-Reisewörterbuch-Spanisch - immer nur verneinend den Kopf. Zum Schluss war ich davon überzeugt: sie wollten weder mich noch meinen Koffer beherbergen. Erst als der Sohn des Hauses im selbigen erschien, nahm alles einen guten Verlauf. Na klar, sagte er in gutem Englisch, kein Problem, geht in Ordnung, sowieso.

Blick aus dem Hotelfenster in PamplonaEs stellte sich dann heraus , dass meine geradebrechten Wünsche nach Verwahrung meines Koffers dahingehend interpretiert worden waren, er, mein Koffer, solle mir auf allen meinen Etappen zum jeweiligen Zielort vorangeschickt werden. Kostenlos. Also so was ...

So konnte ich daher gegen 20 Uhr ziemlich geschafft mein Zimmer betreten und eine erste Wohlbehaltensmeldung nach Hause absetzen. Petra war es zufrieden, ihren göttlichen Gatten höchstselbst am Telefon zu vernehmen und so endete denn auch bald mein Anreisetag im pamplonischen Hotelbett, ohne dass ich bisher auch nur einen einzigen Schritt auf dem Pilgerpfad gegangen wäre.

 

 

Der erste Wandertag (mit Umweg 12 km)


Am frühen Montagmorgen, so gegen 6 Uhr, schmetterte aus meinem extra dazu eingestellten Handy (mit MP3-Funktion) die russische Nationalhymne, gesungen vom Marinechor und orchestral begleitet vom Parademusikzug Wladiwostok. Ich wähle dieses Stück gern als Machwachmusik, weil es zum einen (die Russen kommen!!) zum schnellen Erwachen führt, zum anderen aber auch in seinem getragenen 'andante con moto' den neuen Tag zwar mit Elan jedoch nicht so aufrührerisch wie z. B. die "Marseillaise" begrüßt.

Hupf, aus dem Bett unter die Dusche (Rasierzeug hatte ich zwecks Gewichtseinsparung nicht dabei), so ging es denn noch nackelig ans endgültige Trennen des Notwendigen vom Nützlichen.
In den Koffer verbannt wurde dabei sämtlicher Lesestoff mit Ausnahme einiger aus diversen Wanderführern herausgetrennter Seiten, die ich als nichtLangenscheidts Reisewörterbuch Spanisch verzichtbar beim Pfad finden ansah (ich hatte mich mit insgesamt 1,05 kg entsprechender Literatur eingedeckt, von denen ich nun etwa 80 gr in die Außenbord-Hosentasche steckte) und des Langenscheidtschen Reisewörterbuches Spanisch.
Dafür packte ich eine zweite Literflasche Mineralwasser in den Rucksack, weil ja geschrieben stand: "Spanien ist im September heiß und trocken" und "Du sollst viel trinken beim Pilgern, insbesondere wenn es heiß und trocken ist".
Wie ich später feststellte, ein totaler Unfug. Unabhängig davon, dass die bewarnten meteorologischen Merkmale gar nicht eintraten, gab es unterwegs jede Menge Quellen, Brunnen und andere Trinkwasserspender. Nächstes Mal werde ich allenfalls ein Halbliterfläschchen mitnehmen und dieses auf dem Weg gegebenenfalls nachfüllen.

So. Alles verteilt auf Rucksack und Koffer, Wanderkleidung angelegt, auf zum Frühstück ('el desayuno', wie es spaniolisch heißt) um halb Acht.
Und ... rumms ... (Kultur-)Schock:
Der Spanier an sich haut sich zwar nachts um halb Zehn die Plautze mit drei Gängen voll, magert dann aber morgens sehr unentschlossen über den Esstisch und trinkt vielleicht ein Tässchen Kaffee, nimmt evtl. etwas Gebäck (zum Beispiel einen halben 'chocolate con churros', das ist ein Kringel mit Kakao) und das war's. Keine Wurst, kein Käse, keine Kelloggs Frosties, kein Ei, kein Joghurt, nicht mal eine vernünftige Scheibe Brot.

An meinem Platz im Frühstücksraum befand sich ein geflochtenes Körbchen mit 2 Scheiben Zwieback (oder war der Back gar drei Mal im Ofen?), 1 Stück alufolierte Butter (10 gr) und 2 Näpflein Aprikosenkalamatsch (wie man sie gern im Supermarkt für den Singlehaushalt erwirbt). Dazu noch was in Plastefolie (aus Schkopau?) Eingehülltes, was sich beim Enthüllen als Tortelettchen (Muffin?) erwies. Das hab ich erstmal mit Verachtung liegen lassen, weil diesen eingeschweißten Fast-Food-Mist kann man mir gefälligst am Allerwertesten vorbeitragen (mit Musik meinetwegen).

Lobend zu erwähnen ist jedoch, dass es Kaffee und Milch satt gab. Wahlweise als 'café solo' (klein und heiß), als 'cortado' (wie vor, jedoch mit einem Schuss Milch) oder als 'café con leche' (also Milchkaffee) im großen Becher. Ich wählte sehr ausgiebig letzteren, um meinen Flüssigkeitshaushalt in Ordnung zu bringen (siehe auch obige Ausführungen zum Trinken im heißen und trockenen Spanien), krümelte mir den Zwieback nebst Butter und Aprikose innerwärts und gab dann unter demütigen Dankesbezeugungen wegen der Verwahrung meines Koffers diesen in die Hände des Major Domus. Den Rucksack geschultert, noch ein frohes 'Adios' und schon ging es los zur Estación Autobuses, dem Bus-Bahnhof für Überlandverkehr.

In der BusbahnhofshalleDort wartete bereits die nächste Überraschung auf mich. Während wir in Deutschland zwecks Reinhaltung der Luft eine Abgassonderuntersuchung für L- und PKW verbindlich vorschreiben, überdacht und umwandet der Spanier seinen Bus-Bahnhof, damit auch ja kein Nanogrämmchen der rußpartikelschweren Luft aus der Halle entweichen kann, in welcher mit laufendem Dieselmotor gleichzeitig zirka 20 Busse für die Fahrgäste bereit standen. Und weil der Spanier dazu neigt, erst im quasi letzten Moment seinen Bus (oder sein Flugzeug) zu besteigen, atmeten mit mir bestimmt 150 Leute die blaue Luft in der Bus-Bahnhofshalle.

Irgendwann erschien dann der Bus, der mich nach Jaca (das 'J' wird wie das 'ch' am Ende von 'Dach' gesprochen) bringen sollte. Nicht, wie von meinem Reise-Müller angekündigt, von der Linie ALOSA, sondern von HISPANO ANSOTANO (muss ich dem Müller noch mitteilen, damit er seine ansonsten sehr genauen Reiseanleitungen ändert).

Natürlich wollte ich - alter deutscher Brauch - dem erscheinenden Bus gleich zusteigen. Aber: "Tranquilo" sagte der Busfahrer, was Langenscheidt mit "ruhig" übersetzt, verschloss das leise vor sich hin dieselnde Gefährt und begab sich in die Bahnhofs-Bar fürs Kaffeetrinken. 'Bar' ist im Iberischen nichts anrüchiges (Champagner, Separee und so), sondern wie bei uns die Kneipe. Von dort erschien er 10 Minuten nach fahrplanmäßiger Abfahrt und wir Transportanden rückten brav zu Stuhle.
 

Bus Pamplona - JacaDie Fahrt nach Jaca verlief ereignislos und knapp zwei Stunden später fand ich mich in einer wesentlich kleineren Bus-Bahnhofshalle wieder. Ja. Doch, wirklich: sie haben dort tatsächlich für die beiden Busse, die täglich ankommen, eine Halle mit zwei Bus-Bahnsteigen gebaut. Schließlich könnten ja durch einen unglückseligen Zufall einmal beide Busse gleichzeitig die Halle erreichen. Und was wäre dann? Nicht auszudenken ...

Gleich gegenüber befand sich ein Taxistand und ... oh Wunder ... ein parkendes Taxi. Dieser Zustand verlieh mir Flüüügel, weil neben mir ja noch weitere 9 Gäste im Bus saßen. Wenn die alle auch ein Taxi wollten? Schnellschnellschnell mit wippendem Rucksack über die Straße zum Taxi ... jedoch, es war fahrerlos. Aha!? Na, weit konnte er ja nicht sein, der Fahrer ... oder? Hmm, abwarten ... 10 Minuten ... kein Fahrer. War denn das auch wirklich ein Taxi? Zumindest stand es auf dem Taxenplatz und hatte oben den Reuner drauf (so nennen wir Personenbeförderungsscheininhaber dieses beleuchtbare Dingens mit dem Schriftzug 'TAXI' auf dem Dach). Könnte, sollte, müsste demnach ein Taxi sein. Weitere 5 Minuten ohne Fahrer ließen mich einen forschenden Blick ins Innere des Wagens werfen, wo ich - mit Hilfe einer extra für den Pilgerweg bei Fielmann angefertigten Sonnenbrille mit Schliff fürs Weite und fürs Nahe - alsbald eine Visitenkarte auf der Mittelkonsole entdeckte. Ohne die Fielmann-Guckis wäre ich hilflos geblieben, so aber erkannte ich eine "móvil"-Nummer, also Handy-Nummer, die anzurufen lohnend erschien.

unbemannte Grenzanlage auf dem SomportpassKlugerweise hatte ich mir noch in Deutschland über einen entsprechenden Versender eine spanische Vodafon-Karte für mein Handy besorgt (bereits mit genügend Euronen aufgeladen). Das setzte mich jetzt in die Komfortabilität, den Droschkenkutscher herbeizuzitieren, was relativ einfach war, nachdem wir uns auf Spenglish über den Preis von 30 € geeinigt hatten. Nicht zu viel, wie sich bald herausstellte. Es zeigte sich nämlich, dass der Taxifahrer in Personalunion auch der Vorsitzende des örtlichen Vereins zur Pflege des Pilgerweges war. So übersetzte ich zumindest seine wortreichen Ausführungen zu Stand und Aufgabe. Er fuhr mich deshalb nicht nur zum Somport-Pass hinauf, sondern auf diesem eigentlich nur 30 km langen Weg auch an sämtlichen für einen Pilger relevanten Wegpunkten, Querungen, Abzweigungen (mucho importante!!) und Sehenswürdigkeiten vorbei, diese mir jeweils genauestens erklärend. Der Weg verlängerte sich dadurch mindestens um ein Drittel, was aber an dem vorab verhandelten Fahrpreis nichts änderte.
So kamen wir denn gegen 13.30 Uhr auf dem Pass an. Lustigerweise fuhr mich mein Chauffeur noch einmal kurz nach Frankreich hinein (für ca. 8 Meter), um mich dann - wieder in Spanien - genau vor der Pilgerherberge und Cafeteria "Aysa" abzusetzen. Zum Abschied rief er mir ein fröhliches "Schuuhss" zu, was ich in gleicher Lautstärke und Fröhlichkeit zurückgab, weil ich es für einen gebräuchlichen Pilgergruß hielt.
Später erst ging mir auf, dass es wohl weniger ein Pilgergruß als vielmehr das deutsche "Tschüüß" war, welches er lautmalerisch nachbildete, um damit seinem deutschen Fahrgast eine Freude zu machen. Jaja, der Deutsche als Ausländer ...

Pilgerherberge AysaNun endlich stand ich also vor meinem ersten Schritt auf dem Camino de Santiago. Doch zuvörderst hatte ich natürlich in der Herberge einen ersten Anwesenheitsstempel in meinen PP (Pilgerpass) drücken zu lassen (wie damals beim Konfir [gesprochen: Kompfer] als Nachweis des zum Konfirmandenunterricht gehörenden sonntäglichen Kirchenbesuches).

Summus Portus, der alte römische Name des Somportpasses, prangte nun in meinem 'Credencial del Peregrino'. Von hier aus - sprach mein Wanderführer - möge ich über ein Steintreppchen (nach 30 m auf der Straße nach Candanchú links runter) und einen Trampelpfad in einer viertel Stunde die Ruinen des ehemaligen Pilgerhospitals Santa Cristina erreichen.

Beginn des Camina de SantiagoRitter Galceran musste, nachdem er von Frankreich her den Summus Portus erreicht hatte, seinen ihn begleitenden Sohn, der völlig erschöpft durch den Aufstieg auf der Höhe des Passes in Ohnmacht gefallen war, bergabwärts in dieses Hospital bringen und selbst in der Herberge des nahe gelegenen Dorfes Canfranc Unterkunft nehmen.
Galceran stand der 'Codex Calistinus' zur Verfügung, der mittelalterliche Pilgerführer. Darin hieß es, das Pilgerhospital Santa Cristina sei neben dem Hospiz auf dem Sankt Bernhard und dem Hospital von Jerusalem eine der unabdingbaren Säulen, die Gott zur Unterstützung der Armen als Pfeiler christlicher Nächstenliebe errichtet habe. Ich erwartete demgemäß ein bombastisches, wenn auch ruiniertes Gebäude, als ich Treppchen absteigend und Trampelpfad trampelnd den Ort des ehemaligen Hospitals erreichte.
Fast wäre ich an einigen knapp meterhohen Mauerresten vorbeigestolpert, hätte nicht eine große und moderne Hinweistafel diese als die Reste jener gottgeschaffenen und steingewordenen Nächstenliebe gewürdigt.
Ruine des Pilgerhospitals Santa CristinaMein Gott, wie achtest Du auf Deine Sachen.
Neinneinnein, ich hatte ja erklärt, den Geist des christlichen Pilgerns respektieren zu wollen. Deshalb wurden solche lästerlichen Gedanken schnell vertrieben. Ich stellte mir lieber vor, wie diese Mauern zu Zeiten des Galceran wohl ausgesehen haben mögen. Die Mauerstärke war durchaus respektabel und die Steine gut gefügt. Es möchte dazumal schon ein imposantes Gebäude gewesen sein. Dennoch müssen die Ansprüche an Gottes Wirken wesentlich geringer gewesen sein als heute.
Das derzeit höchste Gebäude auf Erden macht es ja nicht mehr unter 500 Metern. Höher, größer, protziger, die christliche Nächstenliebe kann da jedenfalls kaum gegenhalten, wenn renditegeile Investoren die Sau rauslassen. Wo soll das noch hinführen?

Also weiter. Der "Pfad" machte seinem Namen alle Ehre: mal plattgetrampelte Wiesenspur, mal steinig, mal felsig, mal in Stufen ausgebaut, ging es rauf und runter, aber stetig bergab. Die Landschaft war traumhaft schön und der Camino (Pilgerweg) verlief immer weitab der nächsten Straße. Der Himmel leicht bewölkt, schien die Sonne nur hin und wieder durch Wolkenlücken, die Temperatur recht angenehm, jedenfalls nicht zu warm. Trotzdem zog ich bald mein gelbes Goretex-Jäcklein aus und verstaute es im Rucksack.
Ach ja, mein Wasser, wovon ich zur Genüge mit mir rumschleppte. Nicht weil ich Durst gehabt hätte, sondern mehr der Gewichtsreduzierung wegen, machte ich einige 3-Minuten-Pausen und süppelte das Wasser weg.

Seit ich gegen 13.45 Uhr am Somport-Pass aufgebrochen war, hatte ich eine Stunde lang keine Begegnung mit Menschen. Nur Berge, Wiesen, Kühe, ein steinernes Refugio (Schutzhütte) und eine lustige Absperrung für eine marode Fußgängerbrücke. Lustig deshalb, weil die Sperre lediglich aus einem gelben, Meter mal Meter großen Rohrgestell bestand, offensichtlich Reste einer LKW-Flachte, das einfach hochkant vor den Zugang zur Brücke gestellt worden war. Woher ich denn wusste, dass es eine Brückenabsperrung war? Weil mir das mein Wanderführer glaubhaft so berichtete. Und der stammte aus 2004. Hihi ...

Dann aber doch menschliche Stimmen ... aha ... genau dort, wo mein Wanderführer eine Badestelle im Fluss beschreibt, lagerten am anderen Ufer einige Jugendliche und ließen es sich gut sein. Wie schön.

oben der Pilgerpfad, unten eine Badestelle im FlussÜbrigens: Wanderführer. Ich hatte wirklich gut daran getan, nur einige wenige Seiten herausgetrennt mitgenommen zu haben, weil der Weg bestens gekennzeichnet war. Schilder, gelbe Pfeile und weiß-rote Markierungen wiesen stets den richtigen Weg. Irgendwann später habe ich die Seiten dann auch gänzlich weggepackt und nur noch abends nachgelesen, wie und wo ich gegangen war.

Kurz vor Erreichung meines ersten Tageszieles, des Hotels 'Casa de Turismo Rural La Tuca' (was für ein Name) in Canfranc-Estacion, überraschte mich ein Hagelschauer so plötzlich, dass ich weder Goretex-Jacke noch Pelerine überzuwerfen in der Lage war, sondern nur noch schnell mich unter die gottlob weit überstehende Traufe einer Feldscheune retten konnte. Sonnenhagel. Hatte ich so auch noch nicht erlebt. Wenn Sonnenregen groß macht (wie man mir als Kind eingeredet hat), was macht denn dann Sonnenhagel?

Jürgen Müller, mein Reiseveranstalter, schrieb in seiner Hotelfindungsgebrauchsanweisung: Das 'Casa Rural La Tuca' ist leicht in dem kleinen Ort Canfranc-Estacion zu finden.
Der Leichtgläubige!!

das irreführende HotelschildDer Ort mag ja klein sein, auf jeden Fall ist er aber lang. Knapp zwei Kilometer bin ich durch den Ort gestapft, immer auf der Suche nach dem "leicht zu findenden Hotel". Zwei freundliche Herren am jenseitigen Ende des Ortes klärten mich dann auf Befragung dahingehend auf, dass das Hotel La Tuca am - von ihnen gesehen - jenseitige Ende des Ortes befindlich sei. Gleich wenn man reinkomme links. Aha. Also wieder 2 km zurück. Aber neuerlich kein Hotel La Tuca. Nur ein Casa Marieta etwas abseits der Straße. Okay, frag ich halt da mal nach. Schon im Näher kommen auf das Haus (eine Art Reihenhaus) sehe ich, dass es zwei Eingänge hat. Über dem rechten prangt die Bezeichnung Casa Marieta und über dem linken ... etwas kleiner ... so erst aus zwei Metern Entfernung zu entziffern ... na ... jawoll: Hotel Rural La Tuca. Wobei 'rural' einfach nur 'ländlich' bedeutet, wie ich besser vorher schon im Langenscheidt nachgeblättert hätte.
Ich stand also vor dem Landhotel La Tuca und fragte mich, welche Kriterien ein Haus erfüllen müsse, damit es sich 'Hotel' oder 'Landhotel' nennen dürfe.

Nun gut, ich war eventuell verwöhnt von dem Hotel Eslava in Pamplona, wo man mich zwar nicht verstehen konnte, ich aber viele Annehmlichkeiten wie mehrere kuschelige Hand- und Badetücher, Shampoo in zierlichen Fläschchen, Seife in ansprechender Schale, ja sogar eine Einmal-Zahnbürste nebst Pfefferminzzahncreme sowie Duschhaube (wer nutzt so was eigentlich?) und Schuhreinigungsset zur persönlichen Verfügung hatte.
Hier im Hotel Rural La Tuca war hinter unverschlossener Tür zunächst niemand zugegen. Erst Rumoren und Türewerfen sowie mehrfaches 'Olá' laut in Richtung hintere Gemächer gerufen, brachten eine Frau mittleren Alters herbei. Die wusste auch sofort, dass ich der war, den sie als einzigen Nachtgast heute erwartete. Sie überreichte mir 1 (ein!!) Handtuch, erklärte sich nach zähen Verhandlungen bereit, das Frühstück bereits um Acht zu servieren (7.30 Uhr war eine scheinbar unmögliche und absolut unchristliche Zeit für sie) und wies mir das Zimmer. Dabei stolperte sie über eine beim Betreten hochklappende Bodenfliese und machte sich beinahe noch aufs Mett. Und weg war sie, die ich erst am nächsten Morgen um viertel nach Acht (!!) wieder zu Gesicht bekommen sollte.

Das Zimmer bestand aus: 1 Bett, 1 ant. Kleiderschrank, 1 Stuhl, 1 Deckenlampe.
Wannendusche und Klo übern Flur ohne direktes Außenfenster. Man konnte zwar zum Zwecke der Lüftung des Klo-Bades ein Fenster öffnen, welches sich aber nicht nach draußen sondern zu einem anderen Schlafgemach hin öffnete. Boah. Immerhin hatte nämliches Schlafgemach dann ein Außenfenster, so dass ich - weil die Tür zur Kemenate verschlossen war - zunächst durch das Klofenster hineinklettern und dort das Außenfenster öffnen konnte. Das Duschen verlief ansonsten unfallfrei, wobei ich gleich meine Ober- und Unterbekleidung mit in die Wanne nahm, sie dort mit Füßen tretend, wie ich es in einem Dokumentarfilm bei indischen Wäscherinnen am Ganges gesehen habe.
Gut durchgespült, Sicht- und Geruchskontrolle: passt.
Leider waren in meinem Zimmer keine geeigneten Aufhängevorrichtungen für die Wäsche vorhanden, so dass ich mit Hilfe einer vorsorglich mitgeführten 3-Meter-Schnur, die ich durch Kopf-, Bein- und Armöffnungen der Trekkingsachen führte, eine Wäscheaufhängvorrichtung bastelte, die vom Fensterkreuz zum Türgriff führte.

Diese Unterkunft werd ich dem Reise-Müller aber bei Gelegenheit mal vermiesen. Wie unkommod, dachte ich.
Da wurde mir dann aber schlagartig bewusst, wie sehr ich doch der heimischen Wohlfühl-und-Füße-hochleg-Mentalität verhaftet war.

Ich nahm mir reumütig vor, dringend den "Geist des christlichen Pilgerns" zu überdenken und für mich bekennenden Kirchenignoranten zu definieren.

Jetzt wollte ich aber vorderhand mal schauen, ob es in diesem "Hotel Rural" lecker was zu beißen gab. Immerhin hatte ich ja seit neun Stunden außer den beiden Zwiebacks mit Marmelade nichts zu essen bekommen. Gab es aber nicht. So klaterte ich mir mein Zweitzeug (Jogginganzug vom Aldi) an und machte mich auf den Weg ins Dorf. Dort erstand ich in einer 'Bar' eine kleine Stange Weißbrot und zwei Büchsen Bier, welchselbigen Einkauf ich mir wieder in meinem Bette liegend sorgfältig einverleibte. Ich schlief recht gut in dieser Nacht. Was Wunder, ich war ja auch allein im Haus, hatte 12 km Fußweg hinter und zwei Büchsen Bier in mir.

 

Der zweite Tag auf dem Pilgerpfad (25 km)


Nun war es bereits Dienstag, der 12.9.2006, und ich erwachte durchaus ausgeruht. Das Bett als solches war demnach hinreichend bequem gefedert.
Ach so. Was mir bereits an den Vortagen aufgefallen war und sich auch bei den nächsten Hotels nicht ändern sollte: Federbetten hat es wohl gar nicht in Spanien. Immer befand sich auf der Matratze ein Laken, darüber ein weiteres Laken und da drauf eine Wolldecke. Für kalte Nächte lag dann irgendwo eine weitere Decke umher.
Zwischen die beiden Laken drapierte ich jeweils meinen Alabasterkörper, was mir auch meistens ohne zusätzliche Wolldecke genug Schutz und Wärme war.

Das frugale Frühstück entsprach dem vorherigen, jedoch lagen die einzelnen Bestandteile nun offen auf dem Teller und nicht mehr abgepackt im Plastikbecherlein oder in Alufolie. Es wurde aber alles mit Appetit aufgegessen, weil das Weißbrot-Bier vom Vorabend im Sättigungsgefühl nicht übermäßig anhaltend nachwirkte und weil ich heute ja meine erste 'große' Etappe von ca. 25 km unter die Füße nehmen wollte.
Die Frau vom Vortag ließ mich beim Kredenzen des Frühstücks wissen, dass ich den Zimmerschlüssel einfach stecken lassen möge, und entschwand. Wieder war ich allein und hätte in Herzensruhe das Haus auf den Kopf stellen können. Vermutlich führt die Dame das 'Hotel' im Nebenerwerb und geht irgendwo noch einer anderen Beschäftigung nach.

Dann mal los: Gleich 300 Meter später marschierte ich an einem "gigantischen neoklassizistischen Bahnhofsgebäude aus dem Jahr 1928" (wie es Michael Kasper in seinem Outdoorhandbuch aus der Reihe 'Der Weg ist das Ziel', Band 23, bezeichnet) vorbei.

Canfranc EstacionEigentlich war Canfranc nur ein kleines Bergdorf. Mit der Eröffnung der internationalen Gebirgsbahn Pau - Canfranc - Zaragoza sollte etwas von dem Reichtum internationaler Durchreise- und Wintersportgäste für die Bewohner abfallen. Weil aber die stolzen Spanier ihre Eisenbahnspurbreite nicht dem europäischen Standard anpassen wollten, mussten die Schönen und Reichen in Canfranc samt Gepäck umsteigen, was sie als lästig empfanden. 1930 wurde dann auch noch im spanischen Bürgerkrieg der Somport-Tunnel als Verbindung nach Frankreich geschlossen und blieb dies auch im zweiten Weltkrieg. Nach kurzer Wiederbelebung der Strecke plumpste 1970 auf französischer Seite die Eisenbahnbrücke von Estanguet in sich zusammen, womit der internationale Bahnverkehr nach und durch Canfranc endgültig sein Ende fand. Heute ist noch ein kleiner Fahrkartenschalter inkl. Warteraum in Betrieb. Die restlichen Türen sind verschlossen. Jetzt fahren – auf spanischer Seite - nur noch zweimal am Tag Züge von Zaragoza nach Canfranc und zurück.

 

Brücke hinter dem StaudammDafür ist dann aber eine Straßenverbindung nach Frankreich geschaffen worden, die ebenfalls die Pyrenäen untertunnelt. An diesem Tunnel-Ein- und Ausfahrtsystem kam ich gleich am Ortsausgang von Canfranc Estacion vorbei. Immer schön links gehalten und zum Schluss noch durch eine kurze Durchfahrt hindurch, dessen linksseitiger, ca. 60 cm breiter Fußgängerbereich durch blaue Rohre vom Fahrweg abgegrenzt war (mein schmales Kreuz mit folgendem Rucksack passten gerade so da durch). Gleich hinter dem Tunnel ging es links ein Treppchen hinunter und weiter zu einem Brücklein. Dieses führt unterhalb einer Staumauer über den Rio Aragon, wo oberhalb des linken Flussufers ein zwar gut ausgeschilderter aber sehr holperiger Weg überwiegend durch Baum- und Buschwerk lenkt. Hier hatte ich auch meine erste Begegnung mit einem Mitpilger, der, gleichen Alters aber wahrscheinlich viel leichter bepackt als ich, an mir vorbeistürmte. Er hatte grad noch Zeit, das sich verschlechternde Wetter in französischem Englisch zu bekritteln (nachdem ich mein übliches "no espagnol" gemurmelt hatte), und schon entschwand er kurzbehost meinen Augen. Ich sollte ihm allerdings Tage später noch zwei Mal begegnen.

Ein "arschkalter" WasserfallAuf dem Stolperweg (einer der besseren, wie ich noch schmerzlich erlaufen sollte) ging es so eine halbe Stunde voran, bis ich an eine von fallendem Wasser vertiefte und verbreiterte Stelle eines Nebenbaches des Rio Aragon kam, die Michael Kasper als "schöne Badestelle mit Wasserfall" beschreibt. Nun gut: schön war sie ja, die Stelle. Ich habe auch gleich meinen Ranzen abgelegt und zuvörderst nur mal einen entblößten Fuß hineingehalten. Gelegentlich dieser Aktion konnte ich aber feststellen, dass das Wasser - wie man so schön sagt - arschkalt war. Zum Baden für mich Frostköttel also gänzlich ungeeignet. Bibbernd befestigte ich wieder Strumpf und Schuh am blauen Fuß und ging schnell weiter. Kam so recht bald in den ehemals eigentlichen Hauptort des Tales, Canfranc Pueblo (Dorf), der nach einem Brand im Jahre 1944 zum Vorort von Canfranc Estacion wurde, wohin die meisten Einwohner samt Schule und Bürgermeisterei umsiedelten.

Canfranc Pueblo machte auf mich einen angenehmen Eindruck, zumal der Ort nicht von der Nationalstraße durchschnitten wird. Sehr schöne alte Häuser und eine kopfsteingepflasterte Calle Mayor (Hauptstraße) mit einigen Nebengässchen. Hier traf ich auch die ersten Hunde, vor denen die Vorberichte warnten und rieten, sich ihrer mit dem Pilgerstab zu erwehren. Was ein Blödsinn!! Lauter friedliche und freundliche Kreaturen, einige sogar beisammelt mit Katzen und Hühnern auf einem Bauernhof.

PilgerbrückeDer kleine Ort war zügig durchschritten, links ab und am Friedhof vorbei ging es über einen Graspfad zu einer mittelalterlichen Brücke, die aussah, als habe sie Albert Uderzo zur Vorlage für seine Asterix-Comics genommen.

Nee, watt schön!! Ich sah förmlich den dicken Obelix die ollen Römer über die niedrige Wandung schubsen. Und ein gelber Pfeil prangte auch am Gemäuer, ich war also auf dem rechten Weg, der mich nach einer halben Stunde zu einer "niedrigen Unterführung" (so Dietrich Höllhuber in seinem Büchlein 'Wandern auf dem spanischen Jakobsweg') brachte. Niedrige Unterführung? I think, I see not right, wie der Engländer sagen würde. Das war doch keine Unterführung. Eher eine Unterspülung der N 330-Trasse. Da sollte ich durch? Auahauaha ...

Unter(spülung)führungNa denn, das Bauwerk wird schon halten, immerhin fahren ja oben schon seit längerem Autos und Laster drüber. Da wird das Ding ja nicht grad dann einstürzen, wenn ich drunter bin. Und auf der anderen Seite konnte ich ja schon den weiteren Verlauf des Pfades sehen. Augen zu und durch ...
Ich hätte die Augen besser offen gelassen, dann wäre ich auch nicht beidbeinig in die riesige Pfütze getappt, die sich (doch eine Unterspülung) dort gesammelt hatte. Gottlob hielten meine teuren Wanderstiefel diesem ersten Nässetest bravourös stand. Innerwärts blieb alles trocken.

Eine weitere halbe Stunde später erreichte ich den Ort Villanúa, wo sich der Weg gabelte in den weiß-rot markierten Wanderweg GR 65.3 (der heißt wirklich so) und in den gelb bepfeilten eigentlichen Pilgerpfad. Überwiegend sind die beiden Wege identisch, so dass man sich sowohl an die weiß-roten Balken als auch an die gelben Pfeile halten kann. Hier entschied ich mich (natürlich) für den Pilgerpfad, obschon er landschaftlich nicht so reizvoll beschrieben war wie der Wanderweg.

weiß-rote WegweiserEs zeigte sich auch wirklich, dass nun eine gute Strecke Weges kam, die alleweil drei bis fünf Meter neben der Nationalstraße herführte. Etliche der vorbeibrausenden Autos hupten oder blinkten mich an, was ich schnell als freundlichen Gruß der winkenden Fahrer und Beifahrer erkannte. Ich nahm es als Anerkennung meines Pilgertums. Unzweifelhaft fand ich auch eher auf diesen "langweiligen" Strecken, die ich ohne Konzentration auf den Weg durchmessen konnte, zu besinnenden Gedanken.

Nach drei Kilometern auf diesem topfebenen Staubweg ging es rechts über die N 330 zunächst weiter auf einem solchen Weg und dann sich von der Straße entfernend auf eine sehr schlecht begehbare und steinige Piste. Da war wieder volle Konzentration gefragt, weil ich Stolperjochen dazu neige, füßlings umzuknicken, mir dabei Sehnen und Bänder dehnend. Die Fußgelenke sind dabei schon so schlackerig geworden, dass ich einen im April 2005 erfolgten dreifachen Bänderriss im rechten Fuß beinahe schon als Glück im Unglück ansah: Weil ein gut verheilter Riss wieder Festigkeit ins Band bringt, wie mir mein Herrenschneider (Chirurg) vermittelte.

steinige StreckeFast zwei Kilometer immer leicht bergauf diesem Steinweg folgend, war ich froh, einem Regenguss ausweichend ins Unterholz flüchten und pausieren zu können. Weia, da tat aber auch gleich alles weh an den unteren Extremitäten.

Endlich erreichte ich eine Asphaltstraße, die aber nur 300 Meter lang hinab in Richtung N 330 führte, um kurz vor der Nationalstraße wieder spitzwinklig nach rechts auf schlechtem Weg hoch in die Plaine zu führen. Zwischen Buchsbaumhecken ging es durch eine große landwirtschaftlich bearbeitete Hochebene und schließlich nach weiteren zweieinhalb Kilometern in das Oberdorf von Castiello de Jaca. Bloß gut, dass mir der taxifahrende Vorsitzende des örtlichen Vereins zur Pflege des Pilgerweges am ersten Tag gerade hier den Weg so gut beschrieben hatte. So wurde ich des fehlenden gelben Pfeiles wegen (wahrscheinlich bei Straßenreparaturarbeiten überteert) gar nicht unruhig, sondern überquerte nach steilem Abstieg aus dem Oberdorf stracks die N330, um jenseits über eine Brücke auf die linke Talseite zu gelangen. Erst hier war mein Pfad wieder deutlich markiert und sogar mit einer unübersehbaren Hinweistafel geziert.

Hinweis- und AuskunftsschildIn meinem Ausriss aus dem Wanderführer von Dietrich Höllhuber heißt es zum folgenden Weg: "... Dort halten wir uns gleich rechts auf einem schattigen Pfad, der in ein Seitental hineinführt, durch das der normalerweise nicht sonderlich wasserreiche Río Juez fließt. Eine Furt wird mit einer Reihe unterschiedlich hoher Trittsteine begangen. Nach starken Regenfällen ist die Passage sehr gefährlich, man benutze dann bis zum Puente de Torrilos die Nationalstraße".

Jo mei, ... gefährlich,  ... sehr sogar, ... nach starken Regenfällen, ... waren die denn jetzt stark gewesen, die Regenfälle?? Sollte man also gleich die N 330 benutzen oder zunächst 10 Minuten hin zur Furt um dann gegebenenfalls wieder 10 Minuten zurück zur Nationalstraße zu wandern? Wo ich doch schon ziemlich kaputt war?

Eine FurtAch was: wer nichts wagt, kommt nicht auf den Ziegenmarkt, wie man in meiner Geburtsstadt Wolfenbüttel zu sagen pflegte, als es am Ziegenmarkt noch das Zuchthaus gab. Immer mutig voran, es wird so schlimm nicht sein.

Und wirklich: von Gefahr (trotz Regens) nicht die mindeste Sicht. Das Flüsslein war zwar schön breit, aber maximal 20 cm tief. Da wär' ich zur Not auch ohne Trittsteine durchgekommen. Übrigens waren diese Steine geschickt platziert: links eine Reihe hohe Steine zum sich dran festhalten und rechts eine Reihe niedrige Steine, drauf zu wandeln. 

In den nächsten zweieinhalb Kilometern taperte ich zunächst auf angenehmen Wander- und Fahrwegen immer genau Richtung Süden, unterquerte (diesmal in einer richtigen Unterführung) erneut die Straße und ging weiter für 3 km auf einem breiten Schotterweg immer neben und etwas unterhalb der N 330. Dann bog mein Weg nach rechts in Richtung Fluss und führte mich einige Zeit an dessen Ufer entlang. Das Wasser schwenkte 20 Minuten später noch weiter nach rechts und mein geradeaus führender Weg brachte mich zur Ermita de San Cristobal (Einsiedelei des heiligen Christoph).

Der funktionierende Brunnen an der Ermita de San CristobalHierzu heißt es bei Höllhuber, "der (zur Einsiedelei gehörende) Brunnen funktioniert nicht mehr". Ich überzeugte mich vom Gegenteil, indem ich aus dem Wasserhahn einen kräftigen Schluck kühlen Trinkwassers nahm und zum Beweis der Funktionsfähigkeit ein Foto schoss. 

Noch etwas weiter geradeaus und ich konnte bereits die ersten Häuser von Jaca sehen. Sehr plötzlich ging es auf einer Treppe vom Wanderweg auf die oben verlaufende Nationalstraße, auf der ich am Ortseingang bereits das Straßenschild 'Avenida de Francia' lesen konnte.

Der mir von Jürgen Müller übersandte Hotelfindungsplan taugte allerdings nichts. Da waren namentlich nur kleine Straßen aus dem Ortskern von Jaca verzeichnet. Meine sehr breite und prächtige 'Avenü Frankreich' suchte ich freilich vergebens. Es erwies sich jedoch, dass mein Hotel 'Mur' just auf dem ausgewiesenen Weg zur Pilgerherberge lag, zu der ich meine Schritte lenkte, weil ich dort den Stempel für meinen Pilger-Pass empfangen und nach dem weiteren Weg zum Hotel forschen wollte.

Mit großen Augen vor dem so überraschend gefundenen Hotel stehend, traute ich mich mit meinen Dreckbotzen an den Füßen zuerst nicht hinein, fürnehm, wie es sich gab. Große goldene Lettern über dem Portal verkündeten den Namen und eine gläserne Wand fuhr geräuschlos nach links und rechts auseinander, mir Einlass gewährend. Die hübsche Rezeptionistin trug ein schwarzes Kostüm mit weißer Bluse und hatte sich ein dunkelrotes Tuch kunstvoll um den schlanken Hals gewunden. Sehr nett. Doch. Zudem sprach sie Schulenglisch.

Da stand ich nun verschwitzt und staubbeladen mit meinem angefeuchteten 'Voucher' (beim nächsten Mal werde ich für Papiere ein extra und wasserdichtes Behältnis mitnehmen) und war der geschäftsmäßigen Freundlichkeit dieser jungen Dame ziemlich wehrlos ausgeliefert. Scheu nahm ich deshalb meinen Schlüssel in Empfang und ließ mich ohne weiteres Säumen vom Aufzug in die 5. Etage heben. Ich hatte das Zimmer 502.

Und ... oh, welche Wonne: Ein üppig mit Hand- und Badetüchern sowie weiteren Utensilien bestücktes Badezimmer zeigte sich meinen müden Augen. Die Toilette war ausweislich einer über den Deckel gespannten Folie frisch desinfiziert, sogar ein Bidet prangte porzellanglänzend im Raum.
Trotz aufkommender Freudigkeit war ich zu geschafft, um sogleich die Waschkaue für mich und meine Klamotten zu nutzen. Erstmal ein wenig rücklings auf dem Bette liegend Luft und neuen Mut schnappen. Die Tagestour war recht anstrengend gewesen und hat immerhin bei 25 km Länge gute 7 Stunden gedauert.

Haupttor zur Zitadelle von JacaNun denn, was gab es noch zu erledigen: kombiniertes Duschen/Wäschewaschen, Kathedrale und Zitadelle besichtigen, Pilgerstempel holen und Verpflegung für den Abend  besorgen. Ja, aber erst noch ein wenig liegen bleiben und mal schauen, was im Outdoor-Handbuch zu Jaca geschrieben steht ... aha ... Kathedrale kann ich vergessen, die wird seit 2004 ohne Absehung eines Endes renoviert ... Pilgerherberge brauch ich auch nicht aufzusuchen, weil es in Jaca einen 'Delgado de Camino' (Jakobsweg-Beauftragten) gibt, der für die Stempelei zuständig ist und in der 'Iglesia de Santiago' ein Büro hat.

So sei es. Gerne habe ich ausgiebig heißes Wasser über meinen geknautschten Körper rinnen lassen, selten habe ich so still und andächtig das Plätschern auf Kopf und Schultern gespürt. Meine mit mir in die Wanne genommene Wäsche verstopfte jedoch alsbald den Abfluss und erinnerte mich mit steigendem Pegel an meine Wäscherpflichten. Nach 20 Minuten schließlich waren Haut und Textilien porentief rein.

Ob denn der ALDI-Jogginganzug das richtige Outfit für einen Besuch beim Delgado de Camino sein würde? Nun, ich warf noch meine bis dahin im Rucksack verstaute Goretex-Jacke über, was mich dann auch mehr wie einen Pilger aussehen ließ und visitierte zunächst die Senorita an der Rezeption, damit sie mir Auskunft gäbe bezüglich des einzuschlagenden Weges. Sie malte mir auch brav in einen DIN-A-3-Stadtplan das Gewünschte und überreichte mir den Plan als Geschenk des Hauses. So bewaffnet hatte ich es leicht, die "allerdings in den verwinkelten Straßen des Stadtzentrums etwas schwer zu findende" (Originalton Michael Kasper) Kirche aufzusuchen. Jedoch: das Büro des Delgado war verschlossen.
Nun, die Messe würde um 18.00 Uhr beginnen, also blieben mir noch 15 Minuten, die Kirche für eine kurze Andacht zu besuchen. Formvollendet und wie es mir meine katholische Frau beigebracht hatte, schlug ich am Eingang mit weihwasserbenetzten Fingern ein Kreuz und kniete im Mittelgang an einer Bankreihe vor dem Abbild des gekreuzigten Jesus. Bin ich jetzt eigentlich ein religiöser "Trittbrettfahrer"? fuhr es mir durch die Gedanken, weshalb ich - als Gewerkschaftler mag ich schließlich auch keine die Segnungen eines Tarifvertrages ausnutzenden aber nicht dafür Beitrag zahlenden Trittbrettfahrer - im Anschluss an mein Gebet eine Kerze käuflich erwarb und für meine Lieben ansteckte.

Ob es nun an dieser Opfergabe lag, weiß ich nicht, jedenfalls stieß ich beim Verlassen des Kirchenschiffes auf einen sehr freundlichen jungen Mann, welcher sich als der Pilgerbeauftragte erwies und mir meinen Pass abstempelte.

Nun also noch Verpflegung fassen (weil, in das sicher sehr feine Restaurant des Hotels hätte ich mich in meiner Aldi-Kluft nun doch nicht getraut). Da führte mich der Weg an einem SCHLECKER vorbei. Ja, genau, ein Ableger dieser deutschen Drogeriekette. Zu Hause vermeide ich ja aus ideologischen Gründen (Brüder, zur Sonne, zur Freiheit ...) möglichst den Einkauf beim Schlecker, weil er ein Ausbeuter und für seine Beschäftigten ein ganz schlimmer Finger ist. Aber hier kam er mir zupass, weil es mir dringend an einer Bürste zur Reinigung meiner Wanderstiefel mangelte. So wurde ich diesbezüglich auch fündig und erstand daneben noch eine Knabbermischung (Bahlsen) sowie eine Tafel Ritter Sport (Vollmilch mit ganzen Haselnüssen) und einen Tetra-Pack Orangensaft (der Spanier will übrigens nicht nach "Orangen" sondern nach "Naranja" gefragt werden, bevor er Apfelsinensaft raus tut).

Nun denn, der Abend schien gerettet. Jedoch, ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Dieser hatte nämlich offensichtlich die Jahresversammlung des Verbandes der spanischen Laut- und Schnellsprecher in das meinen Räumen benachbarte Zimmer 503 gelegt.
Ehrlich, ich hätte es bis dahin nicht für möglich gehalten, dass in einen ca. 16 Quadratmeter großen Raum mit Bett, Schrank, Stuhl, Schreibtisch und Fernsehapparat noch - dem Krawall nach zu urteilen - mindestens 14 Leute passen, von denen ständig 15 am lauthalsen Krakeelen sind. Einer krähte lauter als die andere schnell. Wie die Erstklässler beim Auspacken der Zuckertüten. Mannmannmann ...

Der Fernsehapparat war zu klein, um da ernsthaft gegen halten zu können. Trotzdem suchte ich einen verständlichen Sender und fand - oh Wunder - das ZDF. Vorabendprogramm, SoKo Köln. 
So laut es eben ging (ohne dass es den Fernseher zerbröseln oder mir die Schalltüten abfallen lassen würde) pegelte ich das Gerät ein und hielt - inklusive Heute-Nachrichten und Rosenheim-Cops - gute zwei Stunden durch. Meine Nachbarn auch. Bis die Menge gegen 20.30 Uhr gesammelt und türschlagenderweise den Raum verließ. Wahrscheinlich wurde das Restaurant geöffnet, dachte ich, toilettierte noch kurz durchs Bad und besah mir den Plan für den Folgetag. Es gab zwei Weiterwandermöglichkeiten: Auf dem originalen Pilgerpfad (21 km nahe der Straße) oder 35 km mit einem Abstecher zum Kloster San Juan de la Peña. Über das Wie und Warum nickerte ich aber alsobald in erholsamen Schlaf.

 

Regen, Regen, Regen am dritten Tag (Mittwoch, 13.9.2006)

Zitadelle von JacaVor dem Wegschnorcheln am Vorabend hatte ich meinen Russenwecker vorsorglich für 6 Uhr in Alarmbereitschaft versetzt. Und weil ich ja nun wusste, dass es das ZDF im Empfangsangebot gab, aktivierte ich schon im Wachwerden den Televisionsapparat, wobei ich sogar noch etwas von den 6-Uhr-Nachrichten erhaschte. Der Papst soll irgendwas gegen den Propheten Mohammed von sich gegeben haben und nun war Tumult im Morgenland.

Aufregender war aber recht eigentlich der Wetterbericht, vorgetragen von Frau Dr. Katja Horneffer. Sie sprach: Das Wetter in Deutschland wird sich baldigst verschlechtern, weil: Über den Pyrenäen dreht sich ein Tief, was dort in der vergangenen Nacht ergiebigen Regen von 40 Litern pro Stunde auf den Quadratmeter gebracht hat!  ... Wie meinen? ... 40 Liter pro Stunde? ... Nee, ne? ... Schnell umschaltend auf einen spanischen Sender sah ich Bilder einer ziemlichen Überschwemmung. Von den Balearen bis zu den Pyrenäen stand einiges unter Wasser und ich mittendrin.
Schuld war ich wahrscheinlich selbst, weil ich meinem Gott am Vortag erzählt hatte, warum ich den Pilgerweg auf mich genommen habe: Ich wollte danken (für Petras Genesung), bitten (dass er es auch weiterhin gut mit ihr meine) und büßen (für das lange Kerbholz, in welches meine bisherigen Missetaten eingeschnitzt sind). Von nun an und für die nächsten vier Tage sollte sich mein Büßerwunsch erfüllen.

Aber vor dem Gang durch den Wolkenbruch wollte ich wenigstens noch das (erwartet sparsame) Frühstück zu mir nehmen. Mit Annäherung an den Frühstücksraum konnte ich vorderhand feststellen, dass - obschon der Raum mit Stücker 30 bis 40 Leuten besetzt war - relative Ruhe herrschte. Mit gutem Grund, wie sich umgehend zeigte: Wes der Mund voll ist, des geht kein Herz über. Der Koch hatte wohl am Vortag ein ganzes Schweinehinterbein (die Bezeichnung 'Schinken' würde zu kurz greifen) gebacken, über den sich nun das anwesende Volk her machte. Selbstverständlich säbelte ich mir ebenfalls ein gut bemessenes Stück davon ab. Das ließ sich auch gut bewerkstelligen, weil das gebackene Bein in einem sinnreichen Gestell eingeklemmt war, dessen unterer Teil gleich noch als Schneidbrett zu verwenden war.

Sehr lecker war auch das übrigens Angerichtete: Es gab Käse, Wurst, Butter, Cornflakes, diverse Säfte, Joghurt mit und ohne Frucht, Brötchen, Weißbrot, eine Art Graubrot und - natürlich - Süßes in allen Arten und Formen. Da war gut schlemmen und Freude in allen Mägen.

Draußen regnete es wie bekloppt und ich beschloss, keinen Beschluss zum weiteren Weg zu fassen. Ich wollte es auf mich zukommen, es sich von selbst fügen lassen, ob ich den dringend empfohlenen Ab- und Umweg über das Kloster San Juan de la Peña (35 km) oder 'nur' die originale Pilgerstrecke von 21 km gehen würde. Allerdings führte schon das opulente Frühstück zu einer Art Vorentscheidung, indem ich das gastliche Haus erst um 9.30 Uhr verlassen konnte und 35 km im strömenden Regen bei komplizierten Wegeverhältnissen mindestens 9 Stunden benötigen würden. ... Minimum. ... Wir werden sehen ...

Außenmauer der Zitadelle von JacaMein noch ungebrochener Elan wurde aber schon bald etwas eingebremst, als ich an der Zitadelle vorbei und über die Avenida de la Constitucion am Stadtrand auf den Camino Monte Pano einbiegen wollte. Dessen Zugang war nämlich verriegelt und verrammelt. Sogar einen Erdwall hatte man aufgeschüttet, um auch dem letzten trotteligen Wanderer klar zu machen: Geh, wo Du willst, aber nicht hier! Über den Wall schauend, gewahrte ich in einiger Ferne schweres Gerät, wie man es für den Aushub und das Bewegen von Erde verwendet. Offensichtlich entstand hier ein Neubaugebiet, welches aus infrastrukturellen Gründen natürlich keine Rücksicht auf wandernde Pilger nehmen wollte.

Also wieder zurück, ein Stückchen die 'Calle Infanta Dona Sancha' (Straßennamen hat's hier ...), an der Kaserne des 64. Galizischen Regimentes vorbei und auf die N 134, die - warum auch - keinen besonders ausgewiesenen Fußweg hat. Da erwies es sich als besonders praktisch, dass meine Pelerine bis weit unter die Knie reichte und ich zudem heute erstmals meine Gamaschen angelegt hatte, die stiefelbedeckend bis hoch über die Waden Schutz vor Nässe und Dreck gewährleisteten. Trotzdem war mir die Geschichte nicht ganz ungefährlich, weil die P- und LKWs doch einen ziemlichen Winddruck vor und neben sich her schoben, in dem ich mit meinem großen Pelerinen-Windwiderstand einige Male heftig ins Wanken geriet, wenn denn so ein Brummer allzu dicht an mir vorbeischrammte.

Weiter vorne gewahrte ich einen Rast- mit angegliedertem Campingplatz, den auch schon ein anderer Pilger ansteuerte. Ein Pole, wie er sich beim Zusammentreffen vorstellte. Ähnlich wie ich gewandet, aber doch auch wieder anders. Alles (mit Ausnahme der Gamaschen), was ich trug, war auch bei ihm vorhanden. Allerdings sah sein Rucksack aus, als sei er schon bei den Kulkaker Füsilieren im Einsatz gewesen, die Pelerine war augenscheinlich aus einer Abdeckplane herausgeschnitten und mit Bindfäden zusammengehalten, die Hose: Calenberger Halblang, der Anorak wasserziehend, die Stiefel ... äh ... Stiefel hatte er gar nicht, nur Turnschuhe (mit zwei [!!] Streifen), der Pilgerstab aus einem Haselnussstrauch entzweigt. Sogar einen Wanderführer hatte er dabei, allerdings in spanisch und von 1996. Ich war gerührt und beeindruckt. Erst recht, als ich hörte, dass er bereits seit sechs Tagen unterwegs sei und von Lourdes her käme, wo er in der Grotte für seine im vergangenen Jahr verstorbene Mama gebetet habe. Er wolle noch bis zum 20. September so weit wie möglich vorwärts kommen, dann müsse er allerdings einen Bus nehmen, weil am 21.9. sein Flieger von Santiago nach Rom ginge. Dort wolle er noch das Grab von Karol Woytila, weiland Papst Johannes Paul II., besuchen und anschließend nach Warschau zurückkehren.
Respekt!!!

lehmschmieriger WegSchwer beeindruckt schritt ich eine geraume Zeit mit ihm, der wegen des vermeintlich verlorenen Pilgerpfades schon nach Jaca zurückkehren und einen erneuten Suchlauf starten wollte. Er ließ sich jedoch überzeugen - wobei mir noch ein bayrischer Harley-Biker, angelockt vom deutsch-polnischen Sprechwirrwarr, argumentative Unterstützung gab - dass der Pfad weiter vorne wie weiland Zieten aus dem Busch brechen würde, was sich 15 Minuten später auch bewahrheitete. Bis dahin gab er sich redlich Mühe, seinen Schritt dem meinen anzupassen, will sagen: neben mir herzuschleichen. Mit Sichtung des ersten gelben Pfeiles war es jedoch aus mit seiner Beherrschung und er stob (zunächst) von dannen. Etwa 20 Minuten weiter fand ich ihn freilich: Mit nacktem Oberkörper an einem Bache kauernd wusch er seine Oberbekleidung, die er völlig zugesaut hatte, als er - vermutlich infolge überhöhter Geschwindigkeit - auf dem lehmschmierigen Wege ausgerutscht und in eine matschepampige Pfütze getümpelt war. Ich machte mich zwar sofort erbötig, ihm Hilfestellung zu leisten, was er aber dankend ablehnte. Es sei alles okay und er müsse nur etwas Ordnung schaffen.

Leider habe ich ihn hier letztmalig gesehen. Vermutlich ist er nach Jaca in die Pilgerherberge zurückgekehrt, um dort "Ordnung zu schaffen" und am nächsten Tag einen weiteren Anlauf zu nehmen. Während der folgenden Tage, als ich vergeblich nach ihm Ausschau hielt, bat ich jedenfalls mehrfach und eindringlich um Glück und Frieden für ihn und seinen Pilgerweg. Was für ein Mann!

Vom fürderen Weg, also auch vom Abzweig in Richtung Kloster San Juan de la Peña, habe ich wenig bis keine Notiz genommen. Es kamen mir einfach zu viel Regen und Wind entgegen, als dass ich den Kopf heben mochte, die Umgebung zu sichten. Der "St. Johann vom Felsen" (Peña heißt so viel wie "steinig, felsig", während Pena "Kummer" bedeutet und Pene eine ganz andere, hier nicht gehörige Bedeutung hat) blieb also von mir unbesichtigt, was ihm bei dem Wetter sicher auch egal war (esta igual).

Leider übersah ich andererseits durch diese Mach-mich-nicht-nass-Kopfhaltung ungefähr zwei Stunden später auch einen abknickenden gelben Pfeil, so dass ich an der betreffenden Weggabelung unwillkürlich aber fehlend den linken Weg nahm, obschon der rechte richtig gewesen wäre. 

echte spanische GeierAber - Glück im Unglück - zum einen war der Abweg nicht sonderlich lang, führte er doch einfach auf einen kleinen Hügel hin, um diesen herum und anderseitig wieder hinab, und zum anderen war oben auf dem Hügel eine Kolonne Geier zu besichtigen, die mir sonst wohl verborgen geblieben wäre. Allerdings konnte ich - mangels entsprechender zoologischer Kenntnisse - nicht ergründen, ob es sich dabei um Bart- oder Gänsegeier handelte. Geier waren es auf jeden Fall, wie ich unschwer am langen und nackten Hals erkennen konnte. Meine Annäherungsversuche zwecks Aufnahme eines nahen Fotos goutierten sie leider nicht und erhoben sich in die verregnete Luft. Ich überlegte noch kurz, sie mit dem "Toter-Mann-Spiel" aus der Reserve zu locken, beließ es aber im Hinblick auf den durchfeuchteten Boden nur beim Gedanken. Das war - wie ich später nachlesen konnte - auch gut so, weil ab und zu so ein Geier gerne mal einen nicht ganz so toten Mann anknabbert.

Mit dem Regen rann auch die Wegezeit dahin und so näherte ich mich nach weiteren zwei Stunden - mittlerweile war es kurz vor 16.00 Uhr geworden und ich hatte hinter einem Campingplatz den bis dato neben der Straße herführenden Weg nach rechts in einen Auwald verlassen - meinem heutigen Etappenziel, der kleinen Siedlung Puente la Reina de Jaca (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen, aber viel größeren Städtchen Puente la Reina, was mein diesjähriges Pilgerziel sein würde).

In diesem Auwald sollte es geschehen, dass ich mein erstes Pilgerüberholmanöver starten konnte. Ob es daran lag, dass die Pilger (an der am Rucksack baumelnden Jakobsmuschel als solche eindeutig zu identifizieren) ein Pärchen waren? Von daher sich die Zeit außer mit Wandern auch mit Turteln vertreibend? Darf man denn als Pilger - wenn man denn schon paarweise unterwegs ist - überhaupt turteln? Ich würde es nach meiner Rückkehr wohl problematisieren müssen. In einem Pilgerforum vielleicht.

SteinmännchenSie waren wohl auch deshalb nicht so schnell auf den Beinen, weil sie - wie ich schon von weitem beobachten konnte - alle naselang anhielten, um Steine übereinander zu schichten. Warum sie das taten, wollte sich mir nicht erschließen, weil: eigentlich ist ein 'Steinmännchen' als Hinweis für den richtigen Weg gedacht. Hier aber standen sie zuhauf und mein Pärchen stellte noch einige dazu. Nun ja, zumindest sah es lustig aus. Wie eine Kolonie verkappter Gartenzwerge.

Mein gütiger und kluger Wanderveranstalter Jürgen Müller muss wohl vorausgeahnt haben, dass meine Waden trotz mäßiger 21 km Laufleistung allein durch den tiefen Lehm - der sich bei jedem Schritt pfundweise an meine Sohlen haftete, bevor er beim nächsten Schritt als Kilopaket abschlupfte - arg bequält waren und magnesiummangelnderweise zu zwacken beginnen wollten. So ließ er mich nicht - dem Pilgerpfad folgend - bis Arrés weiterlaufen sondern mich schon auf kleinem Abweg in Puente la Reine de Jaca Einkehr halten, wo im Hotel Anaya weiche Pfühle für mich reserviert sein sollten. 

Dazu musste ich über eine mächtig lange Brücke schreiten, der leider kein besonderer Fußgängerbereich zu eigen war, so dass ich auf die Großmut der Autofahrer angewiesen war, mich nicht platt zu mangeln. Dem Aragon unten drunter hätten wohl auch 5 Meter Brücke weniger ausgereicht, dachte ich und ließ mir die Typologie der Pinkler einfallen. Da gibt es den angeberischen Typ: Macht fünf Knöpfe auf, wenn zwei genügen.

Natürlich wurde ich noch - als ob das Wasser von oben nicht ausgereicht hätte - von einem übermütigen LKW-Fahrer ge-uzt, der - obwohl ihn ein kleines Ausweichmanöver von etwa 0.8 m linkswärts um eine tiefe Pfütze herumgeführt hätte - mit dem rechten Vorderrad zielgenau durch sie hindurchreifte, was mir den an einer vollständigen Durchnässung bis dahin noch fehlenden Rest gab.
 "Está loco o que?" bölkte ich ihm noch hinterher, aber er war so in seine Freude über den gelungenen Spaß vertieft, dass er mir solches nicht übel nahm. Was ein Glück.

So walkte ich also pitschenass und lehmbesudelt 300 m weiter in ein niedriges Gebäude, über dessen Eingang der Name "Anaya"  in verblassender Schrift welkte. Sofort war Ruhe und Staunen im gut durchrauchten Raum. Zwanzig spanische Augenpaare blickten auf meine lehmigen Abklatsche. ... Kein Hotel?! ... Nur eine Bar gleichen Namens. Aber man zeigte sich kulant und wies mir den Weg: noch fünfzig Meter in die Seitenstraße hinein, wo ich dann auch ein entschieden ansprechenderes Haus als die Kneipe zuvor fand: neu und groß und offensichtlich ein Hotel. Mit breiter Treppe zur doppelflügeligen Eingangspforte. So denn.
Hier machte sich in mir sogleich eine natürliche Verschmutzhemmung Raum und hieß mich, das bekleckerte und kleckernde Oberzeug abzulegen. Also stand ich binnen kurzem in Filzlatschen und im Hemde vor der Pforte und betätigte die Schelle. Zunächst ergebnisoffen, weil sich rein gar nichts muckte. Ich beschloss, die Klingel beim ersten Versuch nicht lang und kräftig genug gedrückt zu haben und tat jetzt solches. Wieder nix. Na, da brat mir doch einer 'nen Storch ... schon wollte ich zum Handy greifen und die spanische Nummer (man spricht deutsch) anrufen, die mir Abenteuer-Müller für Notfälle aufgeschrieben hatte, da hörte ich Klapperlatschen-Sound von rechts und ... hui ... fegte ums Haus herum eine glutäugige Magd mit fliegenden Röcken herbei, der ich schnell und schützend meinen diesnächtigen Voucher entgegenhielt.
Ihre Gesichtszüge entspannten sich darob auch merklich. Sie schenkte mir ein freundliches Lächeln und einen halbminütigen mundartlichen Vortrag, dem ich - der gleichzeitig vollführten Gestikulation wegen - entnahm, dass sie nun wieder hinter das Haus entschwinden würde, von wo sie in das Hotel gelangen und mir die Pforte aufsperren wolle.

Aha! Wieder ein Hotel, das nur für mich geöffnet werden würde?
Die Magd - sie hatte Schürze und Klapperlatschen abgelegt - schlüpfte nun in die Rolle der Empfangschefin und routinierte mich durch alle Fährnisse spanischer Hotelanmeldeformalitäten. Zum ersten und einzigen Male meines Aufenthaltes im Iberischen wurde mein Personalausweis eingezogen, fotokopiert und inhaltlich in ein Formular übertragen. Mittels eines PC-gestützten Hotelbelegungsplanes (ich war also doch nicht der einzige Gast) bekam ich ein Eckzimmer in der 3. und damit obersten Etage zugewiesen und wurde mitsamt meiner Kledage in den Aufzug verfrachtet.

Das Zimmer war genial. Es hatte nämlich eine flache Dachschräge, in die ein großes Velux-Fenster eingebaut war. Das Dach mitsamt seiner flachen Schräge war hübsch nach Südwesten ausgerichtet, wo die Sonne gerade durch die sich auflösenden Wolken brach und die dunklen Ziegel erhitzte. Einen besseren Wäsche- und  Stiefeltrockenplatz kann man sich ja gar nicht wünschen. Also alles Dreckige in die Wanne, ordentlich Rei aus der Tube bzw. Shampoo drauf und gerubbelt, was Zeug und Haut aushielten. Sogar die Stiefel wurden diesmal nicht nur gebürstet, sondern zuvor mit kräftigem Strahl aus dem Duschkopf gründlich vom Lehm befreit. Dann kam alles (außer mir) fein säuberlich ausgebreitet auf die heißen Ziegel und nach einer Stunde waren die Textilien trocken, weitere 40 Minuten später auch die Stiefel.

Zwischenzeitlich hatte ich mir von unten ein Fläschlein (0,5 l) roten spanischen Landweines besorgt, das ich unter Zugabe der bahlsenschen Knabbermischungsreste als Abendmahl zu mir nahm. Beschwingt konnte ich bald meine Trocknungsteile vom Dach klauben und schaffte es grade noch, den Handywecker zu stellen, bevor ich selig wegduselte.

 

Der vierte (und härteste) Tag (Donnerstag, 14.9.2006)

Es hatte in der Nacht wieder zu Regnen angefangen, weshalb ich noch vor der eigentlichen Weckzeit vom Prasseln schwerer Tropfen auf dem Velux-Fenster-Glas wach wurde. Na gut, immerhin war es schon 6 Uhr durch, also konnte ich im Hinblick auf das für 7.30 Uhr anberaumte Frühstück eigentlich auch gleich aufstehen und gemütlich Sack und Pack zu einem stabilen Ganzen zusammenfügen. Zudem wollte auch der Wanderführer (ich hatte mich wieder für den Höllhuber entschieden) kurz mal überflogen werden.

Es sollte heute insgesamt 32 km weit von Puente la Reina de Jaca über Arres und Artieda bis nach Ruesta gehen, wo kein Hotel sondern nur eine Pilgerherberge meiner harren würde. In der von Vuelta-Müller vorgeschlagenen Reiseplanung war ursprünglich vorgesehen, dass ich nach Ruesta wandern, dort von einem Taxifahrer aufgegabelt und nach Punte la Reina de Jaca zurückchauffiert werden sollte, von wo ich nach im Hotel Anaya durchschlafener Nacht wieder mittels Taxi nach Ruesta gebracht werden sollte, dort meine Wanderung fortzusetzen.

Mal davon abgesehen, dass sich Jürgen Müller zwecks Zufriedenstellung seiner Kundschaft richtig was einfallen lässt, war mir das aber eines Pilgers unwürdig. Zur Not hätte ich die Nacht auch - wie ich Müller mitteilte - unter freiem Himmel auf meiner mitgeführten Isomatte im Mumienschlafsack überdauert. Nun, Jürgen Müller nahm diese Anmaßung eher schweigend zur Kenntnis, schrieb mir einen Teil des Reisepreises (Taxi und Hotel) gut und meldete mich sogar noch in der Pilgerherberge an.

Vom Frühstück ist erwähnenswert, dass nächtens wohl ein Bus mit inlagernder Reisegruppe angekommen sein musste, denn der Frühstücksraum war bei meinem Erscheinen bereits gut gefüllt respektive sich bereits wieder am Leeren. Solches erwies sich insofern als vorteilhaft, als - wie bereits viel weiter oben beschrieben - der Spanier sich nur wenig bemüht, das beim Morgenmahl Dargebotene zu sich zu nehmen. Ein Umstand, der mich wiederum in die Lage versetzte, hier und da vom Liegengebliebenen das eine und andere erobernd auf meinen Teller zu häufen. So kam ich zumindest mengenmäßig zu einer ordentlichen Mahlzeit.

Gegen 8.30 Uhr stand ich gestiefelt und gamascht vor der jetzt in der Bekleidung einer Reinigungsfachfrau gewandeten Magd-Empfangschefin, mich zu verabschieden. Ich bekam noch ein freundliches Adios mit auf den Weg und entschwand im nieselnden Regen.

Recht eigentlich waren die Verhältnisse noch übler als am Vortag, dieweil ein sehr kräftiger Westwind mir - der ich geradewegs nach Westen stapfte - entgegen blies. Als Gleitschirmflieger kenn ich mich mit Windstärken aus, deshalb mag man mir abnehmen, wenn ich behaupte, dass der Wind 10 Meter pro Sekunde drauf hatte, was ziemlich genau einer Geschwindigkeit von 36 km/h entspricht. Dieser mit Regen gesättigte Wind pustete mir nun fortwährend die Pelerine hoch, weshalb ich alle paar Schritte genötigt war, sie erdwärts zu schieben, damit meine Knie nicht nass und kalt wurden. Ich pries mich rückblickend glücklich, nicht als Mädchen geboren zu sein, weil dieser Kampf mit hochgeblasener Soutane doch ziemlich zermürbend war.

Badlands in AragonDer Abzweig nach Arres, dem nächsten Ort mit Pilgerherberge, war in Stundenfrist erreicht, jedoch verzichtete ich hier auf einen Pilgerstempel, weil der Umweg in den Ort hinein gute 3 Kilometer betragen hätte. So bewunderte ich weitermarschierend eine Art Mondlandschaft aus blaugrauem Mergel. Mein Wanderführer Höllhuber gibt an, dass solche Formationen typisch seien für die Badlands im amerikanischen Mittelwesten.

Es sah wirklich sehr beeindruckend aus und ich war froh, wieder einen Grund gefunden zu haben, NICHT in den US-amerikanischen Mittelwesten reisen zu müssen (dem Land der Freien und der Heimat der Mutigen), wenn hier schon alles so schön zur Besichtigung stand.

Was den Mergel angeht, so war er zwar nicht so fest wie der unter unserem Grundstück zu Hause in Misburg (ein professioneller Brunnenbohr-Unternehmer hatte mal nach zwei Tagen und einer Bohrtiefe von 25 Metern entnervt darum gebeten, ihn von dem Auftrag zu entbinden), dafür pappte er aber viel besser am Stiefel. Ich sah unten rum aus wie ein Wildschwein in der Suhle.

Der auf einem Hügel gelegene Ort BerdunIn nordwestlicher Ferne prangte auf einem wie dazu errichteten Hügel das Städtchen Berdun. Leider war es für meine kleine Kamera zu weit weg, als dass ich mehr als ein im Regen verwaschenes und in langer Belichtung verwackeltes Foto von ihm aufnehmen konnte.

Auch hier nahm ich mir - wie schon beim unbesichtigt gebliebenen heiligen Johann vom Felsen - vor, den Ort bei einer gesonderten Tour nachzuvisitieren. Er erinnerte mich an den Mont St. Michel, der mir in der Normandie sehr aufgefallen war.


Auf dem mergelpampigen Weg ging es jetzt stundenlang durch Regen und Wind an Martes und viel später an Mianos vorbei bis nach Artieda. Unterwegs sah ich an einigen deutlichen Fußtapsen im weichen Untergrund, dass nicht weit vor mir eine weitere Person wandeln musste. Auch ein Pilger? Allerdings benötigte ich fast zwei Stunden, bis ich das Mensch zu Gesicht bekam. Wahrscheinlich eine Frau, wie die kleinen Sohlenabdrücke vermuten ließen. Sie war annähernd gleich langsam wie ich unterwegs, so dass sich der Abstand zwischen uns nur ganz allmählich verringerte. Zuweilen verlor ich sie der unebenen Landschaft und des verschleiernden Regenvorhangs wegen aus dem Blick, doch hinter einer durch Buschwerk verdeckten Biegung saß sie unvermittelt auf einem Felsbrocken am Wegesrand und fummelte nervös an einer Wasserflasche herum. Seltensamer Weise hatte sie eine Brille mit dunklen Gläsern auf der Nase. Wo es doch sowieso schon regendämmerig war. Bevor ich noch mein obligates "Olá" loswerden konnte, hatte sie - die ich auf Mitte 30 schätzte - schon zu reden begonnen. In einer Art, wie ich als Kind - wenn ich beauftragt war, Brennholz und Kohlen aus dem dunklen Keller hervorzuholen - mir laute Geschichten erzählte, um damit die hinter zwielichtigen Ecken lauernden Gespenster zu vertreiben. Die Frau war offensichtlich bangbüxig. Meinetwegen??
Das ging natürlich nicht. Sofort machte ich Einen auf schwer gebrechlich, jappste und rang nach Luft, mich strapaziert auf meine Wanderstöcke stützend. Von mir sollte erkennbar keine Gefahr ausgehen. Im Gegenteil: ich war scheinbar gefährdet, binnen kurzem an totaler Erschöpfung dahinzuscheiden. Genetisch bedingt sorgt eine solche Erscheinung bei Frauen umgehend zu heilpraktischem Verhalten. Ich bekam also Wasser angeboten und Dörrobst. Von der getrockneten Aprikose nahm ich ein Stück, auch vom Wasser einen Schluck, und gab augenblicklich den vom Verdursten Erretteten.  Nun entwickelte sich sogar noch ein kurzes Gespräch über das Woher und Wohin, wobei ich erfuhr, dass sie in Barcelona wohnhaft und erstmals auf Pilgertour sei, die sie heute bis Artieda führen sollte. Bald darauf wünschte ich ihr einen "Buon Camino" und holperte von dannen. Sie folgte mir nicht!!

Der oben so kurz beschriebene Weg durch die 'Badlands' nach Artieda zog sich über lange und nasse 22 Kilometer. Eine Stunde vor Artieda begann ein zwar relativ breiter, aber schlechter und tiefgerillter Fuhrweg, auf dem es nun stetig auf und ab ging. Der Höhenunterschied zwischen dem Oben und dem Unten betrug zwar jeweils nur schlappe 20 Meter, aber meine körperlichen Reserven brauchten sich merklich auf. Vorsichtshalber ließ ich deshalb Artieda samt zugehöriger Herberge links liegen, weil ich befürchtete - und da kenn ich mich gut -, nicht mehr aus dem Sitz hochzukommen, wenn ich mich erstmal zu einer Herbergspause niedergelassen hätte. Nein, ich wollte heute unbedingt noch Ruesta erreichen.

Ach, wenn sich doch nur mein Faulteufelchen durchgesetzt hätte ...


Artieda im HintergrundSo marschierte ich also auch an Artieda vorbei und kam nach einer halben Stunde auf eine Landstraße, die A 1601. Auf dieser gut ausgebauten Straße kam ich flott voran: Kein Mergel, keine Pfützen, keine lehmige Matschepampe, kein Auto ... kein Auto? ... wirklich, ich hätte mich mitten auf der Straße zum Picknick, gar zu einem Schläfchen niederlassen können, nichts und niemand hätte mich dabei gestört. Fast eineinhalb Stunden lang war ich 'King of the Road', Alleinherrscher über den Asphalt. Sowas durfte ich zuletzt 1982 in Kanada erleben, wohin mich ein Bekannter verschleppt hatte. Da sind wir auch stundenlang keiner Menschenseele auf der Straße begegnet.
Nun, nach 5 Kilometern fand das angenehme Vorankommen ein Ende und es ging gleich wieder heftig weiter: Einen steilen und rutschigen Trampelpfad hinauf zu einer Wiese, noch mal über die A 1601 und hinein in einen Wald, der den Gebrüdern Grimm als Vorlage bei dem Märchen von 'Hänsel und Gretel' gedient haben mag.

MärchenwaldLinks und rechts des Pfades konnte ich allenfalls zwei Meter weit blicken, so dicht standen Büsche und Bäume. Das Blätterdach über mir war zugewachsen und nach vorne und hinten verlor sich der Weg im Dickicht.
Ich bin ja so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen, aber 4 Kilometer durch dichtesten Wald haben mich irgendwann erkennen lassen, dass ich vollkommen verschwunden sein würde, sollte mir hier etwas zustoßen.
Was meinen Schritt beflügelte ...

Seit meinem Aufbruch von Puente la Reina de Jaca heute morgen hatte ich jetzt schon mehr als 30 mehr schlecht als recht zu laufende Kilometer hinter mich gebracht, als mir noch eine weitere Prüfung (nicht die letzte für heute) zuteil wurde: Ein steinklobiger Weg (von Höllhuber 'alter Maultierweg' genannt) nagte dermaßen kräftig an meiner Substanz, dass ich mich erstmals auf meinem Pilgerweg jenseits der Grenze körperlicher Möglichkeiten fand. Ich taumelte und torkelte ziemlich kraftlos über fast einen Kilometer gelenkfeindlichsten Untergrundes. Von wegen 'Highway to Hell' ... keine Ahnung haben die Texter dieses Rocksongs von den wahren Verhältnissen auf dem Weg zur Hölle. Solche groben Brocken unter den Füßen sind nicht einmal Maultieren zuzumuten. Was haben sich die Erbauer dieses Weges bloß dabei gedacht?

MaultierpfadUnd dann endlich Ruesta. Ein verlassenes und deshalb dem Verfall preisgegebenes Dorf, dessen Einwohner sich in alle Winde verstreut hatten, nachdem ihr jahrelanger Protest gegen den Bau des Yesa-Staudammes erfolglos geblieben war. Dorf und Felder würden vom Stausee überflutet werden, hatten unkluge Ingenieure ausgerechnet.  Was dann aber doch nicht eintrat, weshalb das Dorf jetzt zwar trocken, aber entwohnt ist. Lediglich die Herberge ist in Betrieb, zu der es für mich jetzt nur noch wenige Meter waren, damit ich meinen geschundenen Corpus einem heißen Bad zuführen und mich anschließend zur Ruhe betten könnte. Völlig entkräftet erreichte ich das einzig intakte Haus inmitten einstürzender Altbauten, schleppte mich hinein, ließ den Rucksack von den Schultern fallen und sank vor dem Anmeldetisch auf einen Stuhl.
Das Sprachenproblem hatte ich eigentlich schon genügend ausgekostet, fand ich, als mir der Herbergsverwalter nicht ins Englische folgen wollte. Von einer Reservierung durch meinen Reiseveranstalter wusste er schon gar nichts. Mit meinem Personalausweis kam er auch nicht klar, nachdem er sich dazu entschlossen hatte, mir Bleiberecht zu gewähren. Er trug - ist das im Spanischen so? - meinen zweiten Vornamen Siegfried als Nachnamen ein und schickte mich in das Zimmer 6 ... natürlich in einem Nebengebäude ... natürlich in der 1. Etage zum Treppensteigen.
Das war aber noch nicht alles. Das schweißmüffelnde Zimmer 6 war vollgestopft mit 5 Etagenbetten für 10 Personen. Überall lag dreckiges Zeug rum, schmutzige Stiefel trockneten auf einem Brett vor dem ansonsten fest verschlossenen Fenster, alle unteren Betten waren bereits belegt. Mir blieb nur ein Bett zum Hochkrabbeln, auf das ich mich quälte, um fast nahtlos vom heulenden Elend ergriffen zu werden.
Das war der Zeitpunkt, an dem ich jedem Taxi-, Bus- oder Eselskarrenfahrer gefolgt wäre, der mich hier weg und möglichst schnell zum Flughafen mit Anschluss nach Hannover gebracht hätte. Was war ich kaputt, wehleidig und gefrustet ... !!

Da war ganz dringend Trost und guter Rat fällig. Wie von selbst lag auch gleich das Handy in meiner Hand und wurde die eingespeicherte Heim-&-Herd-Nummer gedrückt. Meine kluge Frau, die mir noch mit auf den Weg gegeben hatte, mich nicht zu überfordern, wusste aber gleich Bescheid. Würde sie mich jetzt nach Hause beordern, hätte sie für die nächsten Monate oder gar Jahre ein jammerndes Ehegesponst zu Hause, das das Versagen auf dem Pilgerpfad beweinen würde. Also bedauerte sie mich zwar nach Kräften, bewunderte dann aber mein Durchhaltevermögen auf dieser schwierigen Etappe und fragte listig nach dem weiteren Verlauf der Pilger-Strecke. Da war dann die Luft raus, weil ich ja wusste, dass sie wusste, dass dieses der längste Tag und zudem ohne Hotelunterkunft war. Es konnte also alles nur besser werden, worauf sie mich hiermit dezent hingewiesen hatte.

Es fügte sich dann auch alles relativ gut zusammen. Zwar war die Reinigung meiner selbst und der Bekleidung ausnehmend unbequem in dem kleinen Duschbecken, jedoch fand ich im Erdgeschoss einen unverschlossenen und leeren Raum, in welchem ich mein Zeug zum Trocknen aufhängen konnte. Dort war sogar eine Lampe in Form eines Wandstrahlers angebracht, vor welchen ich meine Stiefel drapierte, damit sie besser trocknen sollten über Nacht. Auch gab es - erstmals auf der Tour - ein richtiges und wohlschmeckendes Abendessen mit drei Gängen und einer Literflasche Rotwein für je zwei Personen. Zudem tröstete ich mich dem Gedanken, dass ja ab dem nächsten Tag mein Schlafsack überflüssig sein würde, den ich bis hierher mitgeschleppt hatte, weil es in Pilgerherbergen kein Bettzeug gibt. So wurde der Abend dann doch noch ganz lustig mit drei Franzosen aus meinem Zimmer, einer davon mein kurzbehoster Mitpilger vom zweiten Tag. Daran änderte dann auch nichts mehr, dass sich beim Besteigen meines obergeschossigen Bettes zwei Latten aus dem Rost lösten, wodurch ich ärschlings einige Dezimeter durchhing. Mein französischer Untermann rettete mich aus dieser albernen Position, indem er von unten fußdrückend dagegen hielt, während ich oben von zwei anderen Pilgern hochgehievt wurde.

Nachdem das Lattenrost repariert war (was ebenfalls die drei Franzosen übernahmen, während ich mich von dem Schreck erholte), wurde die bald eingetretene Nachtruhe noch einmal kurz von einem Spätankömmling gestört. Der packte nämlich - nun ja, er hatte ja auch nicht am Abendessen teilgenommen -  zu später Stunde noch einen Romadur aus, bevor ich in ohnmachtgleichen Schlaf fiel. Erst am nächsten Tag konnte ich mich augen- und nasenscheinlich davon überzeugen, dass es keineswegs ein Romadur sondern seine Stiefel waren, die diesen betäubenden Duft im Gemach verteilten. Ich verrate natürlich an dieser Stelle nicht, welcher Nationalität der Käse-Mann war, sonst heißt man mich noch einen Rassisten. 

 

Auf nach Sanguesa (Freitag, 15.9.2006, der fünfte Tag)                  

Ich schlief traumlos durch bis 8.00 Uhr und forschte zunächst nach meinen Sachen in der erdgeschossigen Wäschestube. Wunderbar, alles war bestens gerichtet, Zeug und Stiefel staubtrocken. Hierher verfrachtete ich auch mein übriges Geraffel, um dem Aufbruchsgetümmel in Zimmer 6 zu entgehen. In aller Ruhe stapelte ich alles zusammen und begab mich zum Frühstück. Nun hatte ich auch die nötige Gelassenheit, um mir Räume, Inventar und Belegschaft genauer anzusehen. Die Herberge wird von der Gewerkschaft CGT betrieben, wie mir leider jetzt erst auffiel. Sonst hätte ich doch bestimmt am Vorabend als alter Funktionär das eine oder andere internationale Arbeiterlied angestimmt ... oder? ... auf dem Pilgerpfad? ... doch!!  Denn die Bergpredigt ist ziemlich nah dran an gewerkschaftlichen Programmen. Da gibt es durchaus Parallelen. Und Kampflieder gibt es in der Kirche auch: Ein’ feste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen ... Tja, die Gelegenheit hatte ich verpasst.

Bei Milchkaffee und Zwieback saßen schon meine drei Franzosen, zwei spanische Pärchen, ein junger Portugiese und ein älterer Spanier. Der Herbergsverwalter wieselte umher, räumte Geschirr ab, goss verschiedene Kaffeekannenreste zusammen und wirkte auch sonst ziemlich störend. Typisch Gewerkschaftler, wollte ich beinahe denken, konnte mich aber grade noch bremsen. Weil diesen "unentbehrlichen" Menschentyp gibt es ja überall, nicht nur bei Gewerkschaften. "Alle doof, außer ich" steht auf einem imaginären Schild, dass sie um den Hals hängen haben.

Es war eine Art Buffet aufgebaut, an welchem man sich vornehmlich mit Getränken versorgen konnte. Der Zwieback hingegen wurde nebst Marmelade zugeteilt.
Ach so: Nimm in Spanien NIE offenen Zucker aus der Schale. Immer nur abgepackten im kleinen Papierbeutel. Der lose Zucker ist nämlich Salz, wie ich angeekelt erkennen musste.
Warum denn aber überhaupt bei einem Frühstück, zu dem gar nichts zu salzendes (z. B. Eier) gereicht wurde, ein als Zuckerschale getarntes Salzbehältnis auf dem Tisch stand, wollte ich befürchteten Hähmlachens wegen nicht abfragen. So wandelte ich mit salzkaffeevollem Mund mitsamt der Tasse nach draußen und entsorgte das Gesöff im Blumenkübel. Bähh, was widerlich ...

Für den Abmarsch konnte ich mir eigentlich ordentlich viel Zeit nehmen, weil es bis nach Sangüesa "nur" 23 Kilometer sein sollten, die ich bei einer Gutwetter-Durchschnittsgeschwindigkeit von 4 km/h zuzüglich kleiner Pausen in 7 Stunden hinter mich gebracht haben könnte. Weil aber nichts mehr zu packen und das Frühstück nach weiteren drei Tassen gezuckerten Milchkaffees auch nicht weiter zu entsalzen war, machte ich mich schon um 9.00 Uhr auf den Weg. Von den anderen Pilgern war nur noch der Portugiese am Packsackwerkeln. Der Himmel dräute zwar wolkenverhangen, war aber heute mal nicht undicht, so dass ich nur meine gelbe Goretex-Jacke über das T-Shirt zog und - den Schlafsack hatte ich wie geplant "vergessen" - um ein gutes Kilo leichter das Ruinendorf verlies.

Zu der Herberge gehört noch ein Campingplatz, den ich bald durchquerte und dabei beschloss, hier nie und nimmer mein Zelt oder meinen Planwagen aufzustellen (wenn ich denn so was mal besitzen sollte). Vermutlich bekommt die Herberge staatliche Zuschüsse, damit sie einen Campingplatz vorhält, ohne dass sich jemand darum schert, wie das ganze aussieht. Da war ja unser selbst gerodeter Platz besser ausgestattet, den wir dazumal beim Bund Deutscher Pfadfinder, Stamm der Greifen, Sippe Steinadler, in Dänemark mit eigenen Füßen in den Wald getreten hatten.

Kapelle der Einsiedelei des Apostels JokobusAn den Resten der Einsiedelei des Apostels Jakobus vorbei - einer kleinen romanischen, leider aber mit einem Gitter verschlossenen Kapelle - ging es zuerst über einen Trampelpfad, dann aber auf einer schön gewalzten Forststraße, fast drei Stunden lang immer nur bergauf. Ich sang mir ein Liedlein und war dabei so versunken, dass ich quasi erst im letzten Augenblick eine am Wegesrand hockende Person bemerkte. Es dauerte einen Augenblick, bis ich die seltsame Situation erfasste: Es war der weibliche Teil eines der spanischen Pilgerpärchen aus der Herberge. Ganz allein.
Sie sah mich mit einem ausdrucksvollen Blick an, der - in Kurzfassung - folgendes erzählte: "Ich weiß, dass ich die Herberge mit ihrer Toilette erst vor 15 Minuten verlassen habe und es tut mir auch leid, dass ich nun Dein Schamgefühl verletzte, aber ich muss jetzt mal ein Geschäft verrichten." Warum allerdings ihr Macker nicht in der Nähe war, Wache zu stehen, sagte der Blick nicht.

Nun, von Hause aus bin ich in Sachen Notdurft erfahren:
Kinder gehen vor Autofahrten NIE zum Klo, weil sie sonst eine Gelegenheit weniger haben würden, die triste Fahrt zu unterbrechen.
Schwachblasige setzen sich IMMER so zu Tisch, dass mindestens drei andere Menschen mit aufstehen müssen, wenn gemusst werden muss.
Unentschlossene warten, bis sich die drei wieder hingesetzt haben, bevor sie ebenfalls raus müssen.
Ich selbst sitze meistens gerade dann auf dem Thron, wenn draußen der Postmann zweimal klingelt.
Weshalb sollte also diese Frau nicht gerade dann müssen, wenn ich an ihr vorbei stapfte.

Ihr Begleiter fand sich nebenbei 300 Meter weiter oben. Sinnreicher Weise hinter einer Kurve, damit er die Verrichtungen weiter unten nicht mit bewachen müsse. Männer gibt es ...

Blick auf Undues de LerdaDer weitere Weg nach Sangüesa war übrigens einer der landschaftlich schönsten, nachdem ich erstmal die Hochebene vor Undues de Lerda erreicht hatte. In der nordwestlichen Ferne konnte ich bis nach Navarra schauen und vor mir lagen die Täler der Flüsse Aragon und Irati. Die breite Forststraße führt auf einen Querweg, der ausweislich des gelben Markierungspfeiles erst nach links und gleich wieder nach rechts auf einen holperigen Karrenweg lenkt und dann für die nächsten drei Kilometer diesen herrlichen Ausblick beibehält. An einer steinernen Hütte machte ich Rast, deren eingezäunter Vorplatz mit Schafkötteln übersät war. Die Behausung diente wohl als Schafstall, war jetzt aber leer.

Es lag ein leichter Geruch nach faulen Eiern in der Luft. Offenriechlich Schwefel !!

Wenn es stimmt, dass die Luft bei Auftritten Luzifers nach Schwefel stinkt, dann war mir der gefallene Engel hier wohl ziemlich nahe gekommen. Vielleicht lagen da ja auch keine Schafköttel vor der Hütte sondern Absonderungen des bocksbeinigen Versuchers, der mich von meinem Pfad abbringen wollte ...

... nun ist es aber gut ... bist du deppert? ...

Nun ja, als abtrünniger Mono-, fast schon A-theist, muss man bibel- wenn nicht sogar koranfest sein. Und die Geschichten vom "Ersten Engel" sind ja vom Spannendsten, was Bibel und Koran zu bieten haben.

Undues de LerdaWas den Schwefelgeruch allerdings anging, so klärte mich mein "Höllhuber" dahingehend auf, dass hangabwärts "an ein paar Stellen hier Schwefelwasser austritt, was nach Regenfällen und im Frühjahr besonders deutlich zu riechen ist".
Ach so, ... und ich wähnte mich schon in teuflischer Begleitung.

 Hinunter bis ins Tal gelangte ich dort auf den erhalten gebliebenen, originalen mittelalterlichen Pilgerweg, der sich fast einen Kilometer lang bis nach Undues de Lerda hinauf erstreckt. Leider gibt das Foto, welches ich machte, auch nicht annähernd die geheimnisvoll altertümliche Aura wieder, die von diesem Teil des Weges ausgeht und mich in Gedanken in das Mittelalter reisen ließ.
Wie viele Leiden und Entbehrungen die damaligen Pilger auf sich genommen hatten, um sich ihrem Herrn und Gott zu zeigen, damit sein Blick wohlgefällig auf ihnen ruhe.

mittelalterlicher PilgerwegIm Ort wollte ich mir den Pilgerstempel abholen, weshalb mich mein Weg in Richtung Kirche (selbstverständlich am höchsten Punkt des Dorfes errichtet) führte. Die Pilgerherberge direkt vor dem Gotteshaus ist gleichzeitig "Bar", also Kneipe, und ich genehmigte mir ein großes Glas Cola (die gewünschte Größe zeigte ich mit meinen Händen an, wobei zwischen den Handflächen wohl auch ein Eimer Platz gehabt hätte). In dieser Kneipenherberge traf ich einen der Franzosen wieder (den, der mich im Bett von unten vor dem Durchrutsch (Durchfall?) gerettet hatte). Er war aber schon im Aufbruch und hatte augenscheinlich eine längere Pause gemacht, worauf die umfangreiche Geschirrversammlung auf seinem Tisch schließen ließ. "Ca va?", "Ca va!", hieß es wechselseitig und schwupp war er weg. Im Unterhemd, wie ich konsterniert feststellte, der ich bis hier hin meine original Saleva-Outdoor-Jacke getragen hatte.

Somit fühlte ich mich bemüßigt, den weiteren Weg nach der Cola ebenfalls im Hemde anzugehen. Warm genug war es ja mit ziemlichen 20 Grad. Petrus als Schlüsselgewaltiger für die "Himmelsschleuse" hatte aber wohl etwas dagegen und öffnete knapp 20 Minuten nach meinem Aufbruch erneut alle Abflüsse, was mich wieder zum Pelerinenträger machte, wie man in Spanien die Pilger nennt. 

Tabla de HorariosAm frühen Nachmittag gegen halb Zwei erreichte ich in nachlassendem Regen die Grenze zwischen Aragon und Navarra. Dort stand ein mächtiges Schild mit einer "Tabla de Horarios" ... äh ... wie bitte? ... Fahrplan? ... fährt hier auf diesem regenweichen Schlammweg etwa ein Bus? ... da lohnt doch mal ein genauerer Blick in das Werk. Aha! Kein Fahrplan sondern ein Gehplan. Für den tumben Wanderer, der vergessen hat, auf den Kalender respektive die Uhr zu schauen. Sehr eindrucksvoll ist hier nämlich für den aragonesischen Teil des Caminos de Santiago dargestellt, wie lange der Gehweg dauert zwischen den einzelnen Etappen von Somport bis Sanguesa und ob es dort jeweils Apotheken, Schutzhütten, Bushaltestellen, Campingplätze, Herbergen, Krankenhäuser, Restaurants und Telefonzellen hat.
Das Ding hätten sie man besser am Beginn des Weges auf dem Somportpass aufgestellt.
 Aber immerhin, zumindest wusste ich nun, wem ich für die gute Beschilderung des bisherigen Weges Dank sagen konnte: der Regierung von Aragon.

Vielen Dank also, liebe Regierung.

Noch 100 Meter weiter hatte die liebe Regierung (diesmal allerdings offensichtlich die von Navarra) sogar einen altertümlich anmutenden Grenzstein errichten lassen. Der sieht zwar so aus, als würde er dort schon seit tausend Jahren stehen, kann aber erst irgendwann seit 2005 gebaut worden sein. Er findet nämlich weder in dem Buch "Langstrecken-Wanderwege, Jakobsweg" des 'Nationalen Komitees von Aragon für große Wanderwege' noch im Rother Wanderführer "Spanischer Jakobsweg" oder in Michael Kaspers Outdoor-Handbuch Erwähnung, die alle vor Juli 2005 erschienen sind. Erst mein "Höllhuber" bringt in der 4. aktualisierten Auflage 2006 den Hinweis auf den Grenzstein zwischen Aragon und Navarra.
Grenzstein nach NafarroaDass er von navarrischer Seite gesponsert ist, beweist das Fehlen jeglichen Hinweises auf die autonome Region Aragon, während Navarra gleich zweimal erwähnt ist: einmal in spanisch und noch mal in baskisch, wo es Nafarroa heißt.
Nun ja, auch wir haben ja - meistens an Autobahnen - unsere doppelten Hinweistafeln: erst kommt das Schild "Auf Wiedersehen in Bayern" und 200 Meter weiter "Gott sei Dank, endlich in Hessen" (oder so).

 Nach Überquerung der zur mittelalterlichen Burg Javier führenden Landstraße war der weitere Weg für fast 5 Kilometer unfehlbar: eine breite, schnurgeadeause Schotterstraße.

immer geradeaus nach SanguesaKurz vor Sanguesa habe ich mich dann zum zweiten (und letzten) Mal auf meinem Pilgerweg verlaufen. Erneut zu meinem Glück. Eigentlich hätte ich nämlich in Sanguesa "unversehens" vor der Stierkampfarena stehen sollen. Weil sich aber die Wegezeichen in Nafarroa nicht in so reichlicher Weise fanden wie in Aragon und weil sich zudem meine Reiseführer nicht ganz einig waren in ihren Beschreibungen, bin ich ab der Sichtung des Ortes nach Gefühl gegangen und stand - noch vor Erreichen des Ortskernes - unversehens vor 'meinem' Hotel Yamaguchi. Da ging es mal gerade auf halb Fünf. Prima.

Vor dem Hotel war justament eine Gruppe als Weißclowns verkleideter Männer im aufbrechenden Besteigen eines 9-Personen-Kleinbusses tätig. Allerdings zwar fertig angezogen in ihren buntschillernden Gewändern, jedoch ungeschminkt. Die Gesichter noch naturfarben. "Da wird wohl ein Zirkus im Dorf sein", dachte ich und wunderte mich in der Vorhalle des im übrigen sehr kommod wirkenden Hotels gleich weiter über den einheitlichen Dress der vielen Bediensteten: Alle in weiß, geschlechterspezifisch mit Rock und Bluse beziehungsweise mit Hemd und Hose, und blutroten Halstüchern ...
... und dann löste sich so langsam mein Brett vor dem Kopf. Kein Zirkus, keine Weißclowns. Nur professionelle Stierquäler waren es, die als Matadores, Pikadores, Banderilleros und sonstige Bandidos gewandet dem weiß gekleideten Volk in der nahen Arena ein grausames Spektakel bieten wollten, wozu die Espectadores dann - je nach Grad der Tortur - mehr oder weniger hektisch die roten Halstücher zu schwenken hätten. Ein Festival fand statt, wie überall angepappte Plakate verkündeten. Eine ganze Woche lang.

Rocky als StierquälerMein Zimmer, zu ebener Erde gelegen, geräumig und doppelbettig, hatte wieder allen in Ruesta vermissten Komfort. An der Wand hing ein Bild martialischen Anspruchs, welches unter der Überschrift 'Der Stierkampf' neben den Szenen eines solchen auch einen stolzen Spanier in entsprechender Verkleidung zeigte. Irgendwie kam mir das Gesicht dieses Helden sehr bekannt vor. ...
Jaa, na klar, der sah gesichtlich aus wie Rocky Balboa. Vergleichsweise viel zu schmächtigen Körpers allerdings und mit befranstem Schuhwerk.

RockyWer Rocky Balboa war? Na, dieser hier (aus einem Bericht von Wolfgang Oswald in boxingpress.de): 'Die Filmgeschichte von "Italian Stallion" Rocky Balboa, ein Niemand aus dem Ghetto, der aus Anlass der 200-Jahr-Feier der USA die Chance bekommt, gegen den Weltmeister Apollo Creed zu boxen und nach einer wüsten Schlägerei nur knapp nach Punkten verliert, erhielt 1976 drei Oscars. Und sie machte Sylvester Stallone, den Mann, der Balboa erfand und ihm Leben einhauchte, zum Superstar.' 

Vom sonstigen Aufenthalt im Yamaguchi-Hotel ist erwähnenswert, dass es hier das spartanischste aller von mir in Spanien genossenen Frühstücke gab. Wovon bei der Schilderung des 6. Tages zu berichten sein wird.         

 

 

Von Sangüesa nach Monreal (Samstag, 16.9.2006, 6. Tag)

Die Nacht zog sich, weil ich bereits gegen 22.00 zu Bett gestiegen war, wie Rahat Lukum und ich beschloss gegen 6.30 Uhr, die Ruhezeit zu beenden. Inzwischen hatte ich gewisse Fertigkeiten in der Behandlung meiner Bagage erlangt, so dass mir Waschung, Trocknung und Lagerung mit ziemlicher Geschwindigkeit von der Hand gingen. So war bereits alles gepackt, als ich das Bad verließ und brauchte nur noch der Kulturbeutel versackt zu werden. Mithin forschte ich schon um 7.30 Uhr nach dem Frühstücksraum.

Eine mit Fegen, Wischen und Moppen beschäftigte Putzfrau, der ich das Wort 'desayuno?' fragend vorhielt, ließ auch sofort den Scheuerlappen im Eimer versinken und führte mich an einen Tresen. Ein Stehtresen, wie er in Spanien gern vom trinkenden Publikum angenommen wird. Dort tankte sie einen Kaffee aus der Maschine sowie einen Orangensaft aus der Zapfanlage, stellte beides vor mich hin und widmete sich fortan erneut der Hotelreinigung. Na klasse. Aber so wollte ich es der Hotelführung nun doch nicht durchgehen lassen, weshalb ich mich in einem unbeobachteten Moment einer Tüte aus einer auf dem Tresen aufgebauten Stellage bemächtigte. In der Hoffnung, dass dorten ein Keks oder Schokoladenstück drin versteckt sein möge. Später stellte ich fest, dass es gesalzene Pistazien waren. So hatte ich bis dahin auch noch nie gefrühstückt.

Wilde Watze um 8.00 Uhr morgensErst knapp dem Hotel entwichen, hörte ich fernwärts aus dem Stadtinneren Musik herauf schallen. Seltsam kurze Stücke. Immer so 16 fortwährend schneller werdende Takte und Schluss. Näher kommend vernahm ich zwischen den einzelnen Stücken jubelndes Volk. Dann kamen mir die Straße hoch zwei junge Mädchen entgegen, maximal 13 - 14 Jahre alt, offensichtlich schwer angeschickert und lauthals krakeelend. Wie gesagt: es war früher Morgen, noch keine 8.00 Uhr. Die Musik wurde immer lauter, das Jubeln bacchantischer. Und da lagen sie auch schon, die ersten Schnapsleichen, um die herum wilde Watze zu den Klängen einer Corrida-Kapelle wahre Veitstänze vollführten. Männlein und Weiblein hatten wohl die ganze Nacht hindurch den heldenhaften Sieg ihres Toreros über einen Ochsen gefeiert und konnten dabei kein Ende finden. Es sah alles ganz schön schlimm und besudelt aus. Vorsichtshalber nahm ich meinen Weg über Nebengassen und konstatierte eine derbe Sinnenfreude beim katholischen Spanier. Der örtliche Pfarrer wird gut zu tun bekommen im Beichtstuhl, war meine lutherisch geprägte Meinung.

RocaforteDer Pilgerweg führt mitten durch Sangüesa hindurch und man muss in jedem Fall die Stadt über eine Aragon-Brücke verlassen, die vom Aussehen her wohl in der selben Zeit gebaut worden war wie der Eiffel-Turm in Paris. Alles schick in strebigem Metall. Mit einem abgeteilten Extrafach für Fußgänger. Nun ging es noch kurz die A 127 entlang und endlich durfte ich mich wieder nach links in die Landschaft schlagen, Richtung Rocaforte, das Stadt- und Straßengewusel verlassend.
Dieser kleine Ort ist - wie sehr häufig im bisher begangenen Gebiet - auf einem Hügel errichtet, jedoch hier mehr so um den Hügel herum. Sieht aus wie ein Mönchskopf, wobei die Tonsur den frei gebliebenen Teil des Hügels bildet und der Haarkranz von den ringsum gebauten Häusern dargestellt wird. Man geht - immer bergauf - in einem 180°-Linksbogen um den Hügel und erreicht in Höhe des Haarkranzes im Ort ein Sträßchen, das nach Westen in Richtung Alto de Aibar führt. Dummerweise weist hier ein doppelter Camino-Pfeil sowohl in diese Richtung als auch in die entgegengesetzte Strecke, weiter den Ort hinauf. Ich ließ mich aber nicht beirren und marschierte nach Gradzahl 240 der Kompassrose. 

Tiere verboten beim heiligen Franz von AssisiSo 500 Meter hinter Rocaforte fand sich auch - wie gewollt - der 'Fuente de San Fracisco' (Franziskus-Brunnen). Ein Schild beschreibt dem staunenden Leser, dass hier dazumal der heilige Franz von Assisi auf seinem Pilgerpfad nach Santiago de Compostela das erste Franziskanerkloster Spaniens gegründet hatte, dass der Zutritt von Tieren verboten und dass das Wasser nicht trinkbar sei. Du meine Güte.
Und das ganze Gelände erweist sich dann als dreizügiger Grillplatz.
Was für ein Sakrileg!
Der heilige Franz dürfte sich - auch im Hinblick auf die zugangsverbotenen Tiere - karussellartig im Grabe drehen.

Weitergehend bemerkte ich, dass von links ein Pfad auf meinen Weg traf, von dem ich Leute herabsteigen sah. Aha, alles irre Geleitete, die in Rocaforte den anderen Weg gegangen waren und nun auf die Besichtigung des franzschen Brunnens verzichten mussten, wenn sie denn nicht einen abstechenden Rückweg nähmen.

Fuente de San Fracisco (vorne rechts das Wasserrohr)Stolz auf meinen Fährtensuchersinn, der mich bisher gut beziehungsweise glücklich geleitet hatte, pilgerte ich entlang der Sierra de Izco zum höchsten Punkt des heutigen Weges, dem Alto de Aibar. Bis dahin säumten erst rechts, danach links von mir zahlreiche Windräder den Weg. Diese gehören zu Windparks, von denen so ungefähr Stücker 12 den navarresischen Energiebedarf zu decken helfen.
Nun gehen die Meinungen über die Ästhetik solcher Windkraftwerke ja weit auseinander. Mir jedenfalls behagen die Dinger sehr. Nicht nur, weil sie unverbrauchbare Energie nutzen, sondern weil sie mir auch anzeigen, woher und mit welcher ungefähren Stärke der Wind bläst (was mir beim Gleitschirmfliegen treffliche Dienste leistet).

Auf dem Weg zum Aibar kam ich cirka 2 Stunden nach dem Aufbruch in Sangüesa an einem "Ort" vorbei, der in der Karte als 'Santa Cilia' eingetragen ist. Dabei handelt es sich um einige zerfallene Steinhaufen, die ich nie und nimmer einem ehemals bewohnten Dorf zugeordnet hätte.
Santa Cilia wurde im 16. Jahrhundert von seinen Einwohnern verlassen und bröselt seither vor sich hin. Allerdings hat es eine Wasserstelle, die ich aber nicht benötigte. Später durfte ich mal wieder eine Asphaltstraße unterqueren, die mich in dieser prachtvollen Einsamkeit daran erinnerte, dass ich mich recht eigentlich doch in bewohnter und befahrener Gegend befand.

Weitere 2 Stunden später auf unterschiedlichen Wegen, mal auf schmalem Trampelpfad oberhalb der Straße am Hang entlang, mal auf breitem Schotterweg kilometerweit leicht bergan, erreichte ich zunächst ein Viehrost und bald danach ein Gatter links des eigentlichen Weges.  Hier sollte ich durch, sagte mir ein gelber Pfeil, und auf einen sehr schmalen, sehr zertrampelten Matschpfad einbiegen. Das Gatter war zudem mit einem Vorlegehaken gesichert, was mir zu denken Anlass gab. Viehrost UND gesichertes Gatter. Was mögen das für Kühe sein, die da weiden.

Meine Neugier wurde noch größer, als ich den ersten Fladen sah: doppelt Pizzateller-groß, mächtige 20 Zentimeter hoch, fest und von sattem Olivgrün. Nicht zu vergleichen mit den flachen und pampigen Fladen, in die ich in Bayern schon das eine oder andere Mal punktgenau eingelandet bin.
Es ist - um dieses Thema ein wenig zu vertiefen - nach Murphys Gesetz ja so, dass ein Schaden, wenn er denn entsteht, meistens mit der größtmöglichen Verwüstung vonstatten geht. So gerate ich bei meinen Gleitschirm-Außenlandungen (eine Außenlandung liegt dann vor, wenn man bei einem Überlandflug den eigentlich vorgesehenen offiziellen Landeplatz widriger Umstände wegen nicht erreicht und dann "irgendwo" landen muss) fast regelmäßig in Bedroullie. Sei es, dass ein Bauer sein frisch gemähtes Feld mit der Forke gegen mich zu verteidigen gedenkt, dass eine Ziegenherde just in meinen Landevorgang hinein die Wiese besetzen will oder dass ein Kuhfladen genau dort liegt, wo ich mein Fahrgestell hinsetze. Wenn ein Wissenschaftler Murphys Gesetz einer genaueren Prüfung unterziehen will und dazu einen Katastrophen-Katalysator braucht, soll er mich anrufen. Ich bin das Fleisch gewordene Gesetz. Ich lebe Murphy.

Gottseidank bestand hier jedoch nicht die Gefahr einer Punktlandung. Und so einen Riesenömmes von Fladen konnte man schlechterdings gar nicht übersehen, und somit nicht einmal unabsichtlich hineintölpeln. Wo aber waren sie denn nun, die zugehörigen Kühe. Das Gelände war recht unübersichtlich, von Senken, Baum- und Buschwerk durchzogen und zum Versteckspiel wohl geeignet.

Nach etwa 20minütigem Weg durch dieses Gelände machte ich eine Pause und zog bei der Gelegenheit den letztlich immer seltener zur Hand genommenen "Höllhuber Wanderführer" zu Rate. ... Oh oh, da war ich aber erschrocken und laut klopfte mein Herz, als ich lesen musste, dass dieses eingezäunte und dennoch weitläufige Anwesen von einer Herde von Wildstieren beweidet wird.

Du mein Schreck! Wildstiere!! Wo doch handelsübliche Stiere schon so wild sein sollen.

Sie würden normalerweise friedlich wie die Kühe im Gras liegen und sich mit Wiederkäuen beschäftigen, hieß es.
Und wer vorsichtig sein wolle, der möge beim Gatter auf dem Schotterweg weitergehen, wo es ohne Gefährdung von Leib und Leben zur N240 und von dort in eineinhalb Stunden nach Izco ginge.
Wie sich aber ein Jemand verhalten solle, der dummerhaftigerweise ohne Kundschaftung seines Wanderführers bereits kilometerweit in das bestierte Gebiet vorgedrungen ist, stand nicht beschrieben.

Ähnlich gräuliche Angst war mir zuletzt in die darob unbeweglich gewordenen Glieder gefahren, als ich mich im zarten Vorschulalter von 5 Jahren im flachen Wasser vor dem Sylter Nordseestrand plötzlich von einer unübersehbaren Menge von Krebsen umzingelt und fußbekrabbelt sah. Mein Kreischen muss wohl bis Westerland gedrungen sein ... bis mich eine junge Rettungsschwimmerin auf ihren Armen in die dünende Sicherheit brachte.

Kreischen hätte hier wohl keine Rettung gebracht, weshalb ich gaanz vorsichtig und ziemlich indianermäßig den restlichen Weg hinter mich brachte und mit klammen Fingern das anderseitige Tor gut hinter mir verschloss. Die Stiere und ich: wir waren uns aus dem Wege gegangen. Was für ein großes Stück Glück.

Hinter dem Tor ging es erneut sehr pampig weiter, erst sträßlings auf aufgeweichtem Fahrweg und bald nach links über einen steinig abwärts führenden Waldweg bis zur Staubstraße nach Izco.
In diesem Dorf machte ich wieder eine kleine Rast in der zur Pilgerherberge gehörenden Bar. Ich wollte einen Herbergspilgerstempel ergattern, nachdem ich in Sangüesa nur einen aus dem örtlichen Tourismusbüro bekommen hatte. Der dortige Herbergsstempelverwalter war nämlich nicht aufzufinden und wohl mit der Corrida-Truppe unterwegs gewesen.
Hier in Izco war alles hübsch ordentlich geregelt. Gleich am Dorfeingang befand sich ein Brunnen, wo ich meine Stiefel reinigen konnte, um mit sauberem Schuhwerk die rechts oberhalb des Durchgangsweges befindliche Herberge zu betreten. Von einem kleinen Vorraum ging es links zur Herberge und rechts war die Bar.
In dieser bemerkte ich - nicht zum ersten Mal in Spanien - dass Coca Cola wohl zu den Lieblingsgetränken des Iberers gehört. Entweder trinkt er Bier oder Coca Cola. Den Wein verschickt er nach Teutonien. Dort ist es schick, Rotwein zu süppeln, und so sind auch die Preise. Nun ja.

Die große und stattliche, dennoch freundliche Herbergsfrau bestempelte meinen Pass und war schier untröstlich, als sie mich nicht zum Bleiben bewegen konnte. Aber ich hatte ja schon ein vorbestimmtes Quartier in Monreal und bis dahin waren es noch 3 Stunden Weges. Also Gepäck auf den Puckel und weiter.

Brücke nach MonrealVon Izco bis Abinzano und weiter nach Salinas de Ibargoiti war das Wandern sehr angenehm: breite, gut gewalzte Schotter- und Feldwege ließen mich bald in einen rhythmischen Schritt fallen, der unbedingt besungen werden wollte. Und so schallten am 16.9.2006 nachmittags das Rennsteiglied und andere wandernbare Weisen durch das Tal des Ibargoiti. Man sollte gar nicht glauben, wie leicht einem die Kilometer vom Fuß gehen, wenn man dazu ein lustig Liedlein trällert. Zu und zu schön.

Von Salinas nach Monreal gab es dann als Zugabe noch einen Fußgängersteg über den Rio Elorz, eine Quelle und eine Furt durch ein Bächlein, bis ein schöner Waldweg bei der alten Pilgerbrücke von Monreal endete.

über die Brücke nach MonrealMonreal zeigt sich dem Besucher von der Brückenseite her sehr restauriert und gepflegt. Die engen Gassen offenbaren noch mittelalterliche Strukturen und sind sehr heimelig. Die direkt neben der Kirche befindliche Herberge erschien bei meiner kurzen Stempel-Visite zweckmäßig eingerichtet und trotzdem gemütlich. Leider war auch hier der Lord-Stempel-Bewahrer nicht anwesend, so dass ich beschloss, es für heute bei dem in Izco erhaschten Stempel zu belassen.
An den mittelalterlichen Ortskern haben sie in Monreal leider Gottes zur N240 hin einige "moderne" Häuser geklatscht, zu denen schaderweise auch mein Hotel gehört. Nichts gegen das Haus, aber es passt wie auch seine unmittelbaren Nachbarhäuser nicht hier her. Das einzig gute an ihnen ist, dass sie den alten Ort Monreal zur Hauptstraße hin abschotten.

Nun zum Hotel. Es trägt den Namen 'Hostal Unzue', ist also ein 'Wirtshaus'. Allerdings würde es die Bezeichnung "Hotel" durchaus verdienen. Das Zimmer war sehr ordentlich, sogar mit Terrasse zum "schönen" Ortsteil hin.
Ortskern von MonrealDas Wirtshaus selbst fiel mir zunächst dadurch auf, dass an der Tür ein DIN-A-4-großes Schild pappte, welches ich dahingehend übersetzte, dass in diesem Haus Raucher gern gesehene Gäste seien. So war es auch: dicke Rauchschwaden hingen in der rappelvoll besetzten Gaststube. ... Von wegen europaweites Rauchverbot in Gaststätten. ... Da muss es in Spanien wohl auslegungsfähigere Gesetze als zum Beispiel in Irland geben. Ich habe jedenfalls während meines 10tägigen Aufenthaltes keinen einzigen Spanier gesehen, der seiner Sucht 'ante portas' frönte. Die Teerwerker waren alle jeweils schön 'im Salon' versammelt.
Als ich mitsamt meinem Rucksack gleich in die Gaststube trottete (weil ich den 5 Meter weiter rechts befindlichen Eingang zum Zimmerbereich nicht wahrgenommen hatte), war für Sekunden staunendes Schweigen im Saal. Man wies mir aber sogleich freundlich den Weg und ich konnte mich nebenan melden und mein Zimmer beziehen.
Nach den üblichen Waschungen legte ich mich ein wenig zu Pfühle, um die neuen Weltnachrichten zu televisionieren. Der Papst muss den Muselmanen ja so richtig auf der Seele rumgetrampelt sein, bei dem Aufstand, den sie da veranstalteten. Nun gingen sie im Arabischen schon dazu über, Strohpuppen als Papst herzurichten, in Brennbarem zu tränken und abzufackeln. Gott bewahre. Und dabei ging es doch darum, dass die Anhänger des Propheten Mohammed sich beleidigt fühlten, weil ihre Religion als gewalttätig bezeichnet worden war. "Wir sind nicht gewalttätig", riefen die moslemischen Demonstranten, und "Hängt ihn auf, den Papst!" und "Tod den Kreuzfahrern".

Schepper-Klapper-GlockenGerade wollte ich anfangen, mir um unser christliches Abendland Sorgen zu machen, da schepperten die Glocken der von der Terrasse her sichtbaren Kirche. Eigentlich war es mehr ein Schepper-Klappern. Die eine Glocke schepperte und die andere klapperte. Absolut unharmonisch.
Ich bin nicht so gut im Katholischen, deshalb weiß ich nicht, ob es noch die Vesper oder schon die Komplet war, zu der die Gläubigen herbeigescheppert wurden. Es war jedenfalls kurz nach halb Acht abends, als ich ohrenschonenderweise in die zur Straßenseite gerichtete Bar flüchtete.
Dort erhielt ich zur georderten Cervesa ein Schüsselchen sehr lecker eingelegter Oliven, welches ich dank des fremdelnden Abstandes ansonsten recht dicht die Theke bedrängender Einheimischer ganz allein und ratzekahl wegputzte.

Wie schon erwähnt, war diese Bar eine Räucherkammer, was mich für das Abendessen überlegen ließ, auf selbiges zu verzichten, weil ja nichts so ekelig ist, wie die Nahrungsaufnahme mit zigarettenrauchbelegten Geschmackknospen. Da könnte man ja auch gleich einen Aschenbecher auslecken. Pfui Teufel ... .
Zu meiner staunenden Freude wurde jedoch gegen halb Neun ein blitzsauberer und rauchfreier Nebensaal geöffnet, welcher bereits in strahlendem Weiß frisch eingedeckt bereitet lag.
Ich wurde "platziert", was mir zuletzt in der DDR selig passiert ist. Im Gegensatz zum HO-Restaurant (Gibt's hier keinen Fisch? Nää, keinen Fisch gibt's nebenan, hier gibt's kein Fleisch!) war dieserorts das Platzieren aber sehr sinnvoll. Während der Gastraum in Magdeburg komplett leer war und das Platzieren lediglich der formalen Machtausübung durch die Ingenieure für Serviertechnik diente, strömte hier reichlich hungriges Volk zu Tische und das freundlich unauffällige Personal hatte gut damit zu tun, alle Gruppen, Grüppchen, Paare und Einzelpersonen gerecht zu verteilen.

Einen weiteren Ein-Personen-Tisch in meiner Nähe nahm eine junge Frau in Beschlag, die mich augenscheinlich 'erkannte' und herzlich begrüßte. Hmm ... woher ... ach ja, jetzt erkannte ich sie ebenfalls: die bangbüxige Frau vom Donnerstag, nun allerdings ohne vermummende dunkle Gläser vor den Augen. Wieso war die denn schon hier? Wo sie doch am Donnerstag nur bis Artieda gehen wollte?

Mein Grübeln darüber hielt aber nur so lange, wie die Bestellung nicht aufgegeben war. Ich orderte ein Menü nach Art des Hauses und ließ mir sogar von der Serviererin dessen Bestandteile erklären, ohne ein einziges ihrer stakkierten Worte recht wirklich verstanden zu haben. Das muss sich ändern - beschloss ich - bevor ich im nächsten Jahr meine Pilgerreise fortsetzen würde. Es gibt in Hannover doch bestimmt einen Sprachkurs: Spanisch für Pilger oder so.

Wieder im Zimmer besah ich mir den Plan für den letzten Wandertag und die Anweisungen von Vuelta-Müller. Er schrieb, dass am 17.9.2006 um 18.00 Uhr ein Taxi beim Hotel Jakue (am Ortseingang von Puente la Reina, ganz in der Nähe des Pilgerdenkmals) auf mich warten würde, um mich nach Pamplona zu bringen. So denn. Auf mich wartete also nicht nur ein Weg von 33 Kilometern sondern auch zu festgesetzter Stunde ein Taxi. Da wollte ich mal lieber nicht zu spät aufbrechen, was frühes zu Bett gehen erforderte. Um 22.00 Uhr war dann auch Ruhe im Ritt. Sogar die Glocken schwiegen über Nacht.

 

Zum Wanderziel nach Puente la Reina am Sonntag, 17. September 2006

Was aus der Überschrift dieses Abschnittes hervorgeht, ich aber am frühen Morgen des 17.9. zuerst nicht realisierte, war die Tatsache, dass da ein Sonntag anbrach. Und offensichtlich hält es an einem Sonntagmorgen den spanischen Hotelbediensteten noch länger in der Furzmolle als üblicherweise an einem Werktag. Jedenfalls stand ich um 7.30 Uhr mutterseelenallein im Hotelflur, dessen sämtliche in die Gaststube führenden Türen verschlossen waren. Allein die Ausgangstür stand unverriegelt, damit der örtliche Bäcker seine Kiste mit hochkant gestapelten Baguettes einlagern könne.
Auch nicht schlecht: gar kein Frühstück. Weil: warten bis um 9 wollte ich eingedenk des meiner in Puente la Reina harrenden Taxis nun doch nicht. Also zog ich mir ein Baguette aus der Kiste, deponierte meine Zimmerschlüssel ordentlich auf einem Tischlein für Prospekte und zog davon in einen wunderschönen Morgen hinein.

wolkenverhüllter Monte Higa im SonnenaufgangGegen 8 Uhr schon kam ich am wolkenverhüllten Monte Higa vorbei, der mir tags zuvor als Wegepunkt diente und auf den ich stundenlang im Tal des Ibargoiti immer in westlicher Richtung zugegangen war. Die Wolken - eigentlich eher Hochnebel - oben an seiner Spitze sahen aus wie ein weißes Baskenmützlein, was natürlich sofort fotografisch von mir festgehalten wurde.

Im Nachhinein habe ich festgestellt, dass ich an diesem Tag die meisten Bilder während meiner Wanderung aufgenommen hatte. Nun ja, es regnete nicht und die Sonne brach öfters durch die Wolken.

So ging es zunächst am Rio Elorz entlang, um den Monte Higa herum, über eine kleine Fußgängerbrücke und nach Yarnoz hinauf. Das Dorf liegt etwas unterhalb eines schönen Weges und zeigt dem Wanderer als markanten Punkt einen trutzigen Wehrturm. Den Weg hinunter vom Dorf weg geht es zum Friedhof des Ortes, der aber nur drei Grabstellen birgt und zudem verschlossen ist. Vor seiner Gittertür neugierte ein Pilgerpärchen in das Innere und erwiderte mein "Olá" mit einem freundlichen "Good morning". Aha! Ausländer! Wie ich!

Ortseingangsschild GuerendiáinWeiter am unten im Tal liegenden Otano vorbei führte der westwärtige Weg nach Guerendiáin, wobei ich in Höhe des Ortes Ezperun im weit entfernten Norden Pamplona sehen konnte, wohin mich heute abend ein Taxi bringen sollte.

Gleich am Ortseingang von Guerendiáin begrüßte mich ein ausweislich eingeschnitzter Schriftzeichen Anno 2001 errichtetes Ortsschild. 
Schön mit Feldsteinen umrandet und mit einem angedeuteten Ziegeldach überschützt. Ähnlich nett waren auch die ziemlich neuen und großzügig umgärteten Häuser, die so auch gut in einer deutschen Einfamilienhaus-Siedlung stehen könnten.

kitschiger Stein vor Residenten-"Hütte"Eines hatte einen markanten, aber recht kitschigen dreistufigen Stein vor der Eingangspforte stehen, der (von oben nach unten) aus einer Krone, einem heraldisch anmutenden Schild und einem Sockel mit Jakobsmuschel und Jahreszahl 2004 bestand.

Wie gesagt: ziemlich kitschig und eigentlich viel zu "stylish", um wirklich spanisch zu sein. Vermutlich ist dieses eine Siedlung von "Residenten", wie sich zugezogene Ausländer hier gern nennen.  

Sogar der Ausgang der Siedlung war wieder ornamentiert und bestand aus einer üppigen, behauenen Kalksteinplatte, in die unter einer Jakobsmuschel pfeilumrahmt der Pilgergruß "Buen Camino" eingemeißelt war. Weil die Platte Ähnlichkeit mit der Form eines Grabsteines hatte, bekam sie von mir im künstlerischen Ausdruck nur eine 5 minus. Zudem ist sie als Wegweiser höchst überflüssig, weil sie direkt neben einem "offiziellen" Camino-Stein errichtet ist.

Ich bleibe dabei: dies ist keine spanische Bebauung sondern eine Siedlung deutscher Rentner, die ihre doofen Gartenzwerge in der Heimat zurück gelassen haben, um hier nicht minder deutschtümelnde Gedenk- und Ziersteine in überpflegte Vorgärten zu pflanzen.
Oder bin ich etwa nur neidisch, weil ich nicht so eine "Residenz" mein eigen nennen kann? ...

Der weitere Weg von hier bis Tiebas war aber wieder sehr schön. Zwar hin- und wieder auch anstrengend, wenn es auf Saumpfad durch Macchie-Buschwerkschmalem Saumpfad am Hang entlang ging, aber immer mit herrlichem Ausblick in das Tal und umgeben von Macchie (wie man dieses niedrige Buschwerk in botanisch eingeweihten Kreisen nennt).

Ab Tiebas allerdings fand die bisherige aragonesische Abgeschiedenheit ein abruptes Ende. Eine mächtige Baustelle buddelte sich unter der Autobahn durch, um hüben und drüben einen Zubringer für die Nationalstraße zu schaffen.

Gemäß meinem Wanderführer sollte es hier zwei Wegvarianten geben, von denen ich allerdings nur die eine fand, die ich ohnehin gehen wollte: unter der Autobahn durch, weg von ihr über Ucar und Enériz in Richtung Obanos.

hässlicher Kanal mit unfertigem BeckenDer Weg lohnt nicht, beschrieben zu werden. Allerdings gab es unterwegs ein erstaunliches Bauwerk. Eine Art Kanal, der sich - so weit man blicken konnte - in die Landschaft fräste und in ein unfertiges Becken mündete. Dieses Becken war zwar für sich selbst gesehen ziemlich groß: bestimmt 50 Meter lang, 30 Meter breit und 15 Meter tief. Im Vergleich zu dem kanalartigen Zulauf aber auch wieder recht winzig. Der Kanal war V-förmig vertieft mit betonierten Seitenwänden. Oben war er sicherlich 8 Meter breit und bis zu seiner Sohle so 3- 4 Meter tief. Die darin zu leitenden Wassermassen würden das Becken binnen kürzester Frist füllen. Zur Zeit war jedenfalls alles noch unfertig und leer und ich konnte beim besten Willen keinen sinnvollen Zweck erkennen, dem das Bauwerk würde dienen können.
Aber mächtig gewaltig lag es schon da in seiner die Landschaft verhunzenden Hässlichkeit.

Mittlerweile war es früher nachmittag, als ich das Örtchen Enériz erreichte.
Kaum näherte ich mich seiner im Ortsmittelpunkt errichteten Kirche, als deren Tür aufsprang und schwarz bekaftante und bemützte Kerle heraustraten, von denen je vier auf ihren Schultern ein Gestell mit draufgepflanztem Standbild trugen. Vorneweg der Gekreuzigte und dahinter seine Frau Mutter. Beide manns- bzw. fraushoch und sichtbar schwerwiegend. Trotzdem hatten die acht jungen Männer allesamt ein Lächeln im Gesicht, dass so gar nicht zu ihren dunklen Gewändern passte.

Prozession der Bruderschaft vom Wahren KreuzEs war - wie ich mir notierte - eine Prozession anlässlich der "Fiesta de la Cofradía de la Veracruz", was wohl mit "Fest der Bruderschaft vom Wahren Kreuz" zu übersetzen ist. Hinter den heiligen Figuren wandelte nahezu die komplette Einwohnerschaft, dabei pausenlos und sehr vernehmlich das "Ave Maria" betend. Sehr, sehr beeindruckend und anrührend in seiner Frömmigkeit.

Ganz automatisch verharrte ich am Straßenrand, nahm eine Prise vom Weihrauchduft auf und fühlte mich wohl. Es schien, als sei der Zug nur für mich arrangiert worden, denn ich war der einzige Zuschauer.

Meine gute Stimmung mag aber auch daher gerührt haben, dass es nun nicht mehr weit war bis zur Ermita de Santa Maria de Eunate. Die Errichtung dieser Wallfahrerkirche wird nämlich den Tempelrittern zugeschrieben, die ihren Kirchen häufig eine achteckige Grundform gaben in Erinnerung an ihre Zeit in Jerusalem. Dort hatten sie nämlich nach der Vertreibung der Moslems deren Al-Aqsa-Moschee in ein Kloster verwandelt und zu ihrer Residenz gemacht. Die noch größere Qubbat-al-Sakkra-Mosche (den Felsendom) machten die Templer zu einer Kirche, zu ihrer Kirche. Und dieser Felsendom hatte eine oktogone Grundform.
"So verdankt also diese kleine christliche Kapelle, die so verloren mitten in Navarra steht, ihre Form einer arabischen Moschee, die sich tausend Meilen von hier entfernt befindet." lässt Matilde Asensi in ihrem Roman "Iacobus" den Ritter Galcerán seinem Sohn erklären.

Pilger Ulli vor der Ermita de Santa Maria de EunateUnd dann stand ich tatsächlich vor dieser gar nicht so kleinen Kapelle Santa María de Eunate, um die sich so viele Legenden ranken (nachzulesen unter http://de.wikipedia.org/wiki/Eunate ).

Natürlich nahm ich eine ausgiebige Besichtigung vor, staunte über die für eine Kirche sehr eigenwillige Form und ruhte ein wenig auf der Umfassung eines der äußeren Säulengänge aus. Dabei bemerkte ich, dass der Pilgerpfad doch einigen Zulauf bekommen hatte. Allerdings von der Parallelstrecke her, die auch Hape Kerkeling hätte gehen müssen, wenn er nicht in Pamplona beschlossen hätte, drei Etappen zu überspringen und mit dem Bus nach Viana zu fahren. Armer Hape, da hast Du was versäumt.

Santa María de EunateIch konnte meinen Aufenthalt bei der Templerkapelle ganz ausgiebig genießen, weil ich zum einen wegen frühzeitig morgendlichen Aufbruchs und zum anderen auch wegen verschärften Ich-darf-mein-Taxi-nicht-versäumen-Tempos bereits um 15.30 Uhr hier angekommen war. Mein Taxi im vielleicht noch eine knappe Wegstunde entfernten Puente la Reina sollte aber erst um 18.00 beim Hotel Jakue auftauchen.
So schlenderte ich eine Stunde später gemütlich Richtung Obanos, wo sich mir noch ein letzter steiler Aufstieg in den Ort hinauf bot.

Auf halbem Weg die Straße hinauf erreichte ich ein großes Schild, welches mir erklärte, dass ich mich nun am Zusammenschluss des aragonesischen mit dem navarrischen Pilgerweg befand. Oben in Obanos war das auch sofort zu sehen. Auf einem sehr schönen Platz vor einer Reihe von Bars und Restaurants waren viele bestuhlte Tische aufgebaut, an denen sich bestimmt 20 bis 25 Pilgerinnen und Pilger des schönen Wetters erfreuten. Ich wurde mit Hallo empfangen und zur Rast aufgefordert, was ich jedoch im Hinblick auf die nun doch fortgeschrittene Zeit leider ablehnen musste.

Von den hier Anwesenden war mir kein Gesicht bekannt. Sie waren also alle von Roncesvalles her gekommen.

Nun ging es noch ein wenig aus dem Ort hinunter zur Straße. Der dabei einzuschlagende Weg war eigentlich wegen Bauarbeiten gesperrt, aber die Pilger waren ausdrücklich vom Durchgangsverbot ausgenommen. Irgendwie bedenklich, fand ich. Denn man sperrt so einen Weg ja nicht aus Jux und Dollerei für den Durchgangsverkehr, sondern weil eine gewisse Gefährdung der Passierenden vorliegt. Aber wahrscheinlich dachte man, die Pilger seien dem Herrn so nahe, dass ihnen schon nichts passieren würde. Für meine Person stimmte das auch, weil ich völlig unbeschädigt die Talstraße erreichte, von der es nun noch 10 Minuten lang an Kleingärten vorbei zum Hotel Jakue ging.
Dort kam ich kurz vor 17.30 Uhr an.

Zu meiner Freude und meinem Erstaunen zeigte sich das Hotel Jakue am Ortsrand von Puente la Reina auch als offizielle Pilgerherberge, so dass ich hier gleich meinen Pass abstempeln lassen konnte. Das passte sich ja prima. Ab hier würde ich meinen Weg im Jahre 2007 fortsetzen können.

Tresen des Hotels JakueIn der "Bar" des Hotels war alles sehr großzügig eingerichtet: Ein bestimmt 15 Meter langer, um die Ecke führender Tresen und reichlich Tische und Stühle in rustikalem Holzbau. Prima.
Allerdings haben die Spanier die Angewohnheit, meistens den "großen" Aschenbecher, also den Fußboden, zu benutzen, wenn Asche oder gar eine Kippe zu entsorgen ist. Dementsprechend sah es vor dem Tresen aus wie bei Hempels unterm Sofa, was der Gemütlichkeit aber keinen Abbruch tat.
Kaum hatte ich mich meines Rucksacks entledigt und beim Tresenpersonal einen "Eimer" Cola geordert, da erschien die Hotelmanagerin und fragte mit ganz herzallerliebster Aussprache, ob ich Uulritsch Kre-It sei.
Ich überlegte kurz, ob das mein Name sein könne und antwortete: Si, si!, worauf sie mir mit Hilfe eines Notizzettels verdeutlichte, dass mein Taxi voraussichtlich 20 Minuten später eintreffen würde.
"Das hört ja gut auf!" dachte ich und widmete mich der Beobachtung des Lebens um mich herum. Nach einer halben Stunde tauchten zwei weitere Pilger auf. Einer davon war mein unterhemdsärmeliger Stützfranzose, dem ich nun schon zum dritten Mal während meiner Wanderung begegnete. Sein erschöpfter Begleiter war ein cirka 40jähriger ... Deutscher. Der hatte aber so schwer mit seinem überladenen Rucksack zu kämpfen, dass ihm nicht nach einem Plausch unter Landsleuten zumute war. Ich vernahm noch, dass er aus Heidelberg stamme, bevor er sich zum Herbergsbereich des Hotels schleppte.
Angesichts dieses "Packesels" war ich doch sehr froh über meinen weisen Beschluss, die Ausrüstung so spartanisch wie nur irgend möglich zu halten und jedes mitzunehmende Teil darauf zu prüfen, ob es auch eine leichtere Ausführung davon gäbe. So habe ich zum Beispiel erst nach ausgiebigem Spüren im Internet einen Regenponcho gefunden, unter den wegen einer eingearbeiteten Ausstülpung auch der Rucksack passt, was einen zusätzlichen Rucksack-Regenschutz überflüssig machte. Zudem ist der Poncho auch nur 300 Gramm schwer. Dieses pingelige Auswahlverfahren ermöglichte schließlich, alles in einen kleinen 40-Liter-Rucksack zu verstauen, was wiederum zu einer Gewichtseinsparung führte.
Ein weiteres knappes Kilo werde ich bei meiner nächsten Pilgerreise einsparen können, wenn ich Isomatte und Fleeze-Pulli zu Hause lasse. Beides hatte ich nämlich nicht benötigt.

Zur angegebenen Zeit um 18.20 Uhr schulterte ich meine Bagage und trat vor die Tür, wo auch fast zeitgleich das Taxi vorfuhr. Es war ein ofenrohrgrauer Van, in dem neben der üppigen Fahrerin bereits ein Fahrgast Platz genommen hatte. Dann wurde es lustig.
Es war ja eigentlich "mein" Taxi, welches von Vuelta-Müller für mich geordert und bezahlt worden war. Der weitere Fahrgast saß aber offensichtlich "auf dem Proppen", wie man im Hannoverschen sagt, wenn es jemand sehr eilig hat. Mit vereinten Sprachkünsten versuchten die beiden nun, mir zu erklären, dass genau um 19.00 Uhr am pamplonischen Hauptbahnhof ein Zug abfahren würde, den der Herr unbedingt erreichen müsse. Ob mir denn zuzumuten sei, den kleinen Umweg in Kauf zu nehmen, wollten sie wissen.
Weil es mittlerweile kurz vor Halb Sieben war, stimmte ich dem Ansinnen schon deshalb zu, weil mich mächtig interessierte, wie denn die Taxifahrerin in einer halben Stunde den Weg von Puente la Reina ins Zentrum vom gar nicht so kleinen Pamplona schaffen wollte. Ein Weg von schätzungsweise 25 Kilometern Länge. Von Hannover-Misburg zum Hauptbahnhof Hannover sind es schlappe 12 Kilometer und dafür brauche ich, wenn ich gut durchkomme, so was bei 20 Minuten.

Pilgerdenkmal am Ortseingang von Puente la ReinaEs wurde eine tolle Fahrt, bezeichnenderweise beginnend am Pilgerdenkmal von Puente la Reina, gegenüber dem Hotel Jakue. Zwar hatte ich nie das Gefühl, gefährdet zu sein, weil die Fahrerin klar erkennbar wusste, was sie tat und immer Frau der Situation war. Allerdings fuhr sie ohne Rücksicht auf Ampeln, Vorfahrtschilder, 'rechts vor links' oder ähnlich aufhaltsamen Regeln stur heil ihre überhöhte Geschwindigkeit, von einem mächtigen Hupkonzert geschnittener, vorfahrtbehinderter und rechts wie links liegen gelassener Autofahrer begleitet.
Was soll ich sagen: Zwei Minuten vor Sieben erreichten wir den Bahnhofshaupteingang. Beinahe hätte ich Beifall geklatscht.

Etwas später setzte sie mich dann wohlbehalten vor dem Hotel Eslava ab, wo mich der Hotelier auch wiedererkennend und freundlich in Empfang nahm. Sogar mein Koffer war schon aufs Zimmer expediert worden, so dass ich alles Wanderzeug in einen extra dazu mitgenommenen Wäschebeutel stopfen konnte, ohne vorher den üblichen "Kessel Buntes" in der Badewanne zu bereiten.

Gemütlich machte ich mich mit dem Kofferinhalt stadtfein und begab mich auf die Suche nach einem Restaurant in der Innenstadt. Das war aber gar nicht so einfach, weil - wie ich viel weiter oben schon beschrieben hatte - ich mein Essen nicht genießen kann, wo andere rauchen. Seit Petra und ich uns 1984 das Rauchen abgewöhnt hatten, sind wir auch nur noch sehr selten in Kneipen oder Restaurants gegangen, weil du da immer zugequalmt wirst.
Seit einiger Zeit hoffen wir auf das diskutierte allgemeine Rauchverbot in geschlossenen Räumen, um auch mal wieder "ausgehen" zu können. Leider aber scheint es gerade in Niedersachsen dank der Freien Deutschen Paffer (FDP) wieder nichts zu werden mit einem Nichtraucherschutz. Die freien deutschen Wirte sollen per anzupappendem Schild selbst deklamieren, ob sie ein R-Lokal für freie deutsche Raucher oder ein NR-Lokal für verblendete und intolerante Nichtraucher führen.
In Pamplona pappte an fast jeder Restauranttür ein Raucher-Schild, weshalb ich dann - was willst du machen - bei einem Chinesen einkehrte. Dessen Lokal war gut gefüllt, aber rauchfrei. Das Essen war auch chinamäßig in Ordnung, aber eigentlich hätte ich schon gerne einheimische Kost genossen. Nun ja ...

Mein Flieger von Pamplona nach Barcelona sollte am nächsten Morgen bereits um 7.05 Uhr gehen, was wegen der "1-Stunde-vor-Abflug-erscheinen"-Regelung bedeutete, dass ich das Hotel wohl gegen 5.45 Uhr verlassen müsste. Vorsichtshalber orderte ich deshalb noch an diesem Abend ein Taxi für den nächsten Morgen und begab mich gegen 22.00 Uhr zur Nachtruhe.


Heimflug am Montag, 18. September 2006

Natürlich hatte ich am Vorabend bis auf die vorgesehene Bekleidung bereits alles gepackt. Sogar der Kulturbeutel war schon verstaut, den ich für die morgendliche Toilette nicht brauchte, weil das Hotel Eslava vom Kamm über Seife und Duschgel bis zur Zahnbürste und -paste alles für den reinlichen Gast vorhält, sauber eingeschweißt in kleine Plastikbeutelchen.
So stand ich pünktlich um 5.45 Uhr gestiefelt und bekoffert vor der Rezeption, hinter der auf einer Liege ein Bediensteter ruhte. Er rieb sich kurz die Augen, um mir dann hellwach und dienstbereit einen Kaffee anzubieten. Ich zog es allerdings vor, sogleich das Taxi herbeitelefonieren zu lassen, um dann gegebenenfalls im Flughafen ein Käffchen zu nehmen. Das Taxi war auch minutenschnell vor die Tür gefahren und ich hatte während der viertelstündigen Fahrt zum Aeroporto Zeit, von Pamplona Abschied zu nehmen.
Im Flughafengebäude, das ich tatsächlich genau eine Stunde vor der vorgesehenen Abflugzeit erreichte, war schon reichlich Betrieb. Eine cirka 30köpfige pamplonische Jugendgruppe war beisammelt in Begleitung von Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln. Ob die auch alle wie ich nach Barcelona wollten? Scheinbar ja, denn ein Aufruf zum Einchecken in einen 10 Minuten vorher abgehenden Flug nach Madrid blieb ohne Reaktion. Ebenfalls ein zweiter Aufruf. Als aber so 20 Minuten vor 7 ein "Letzter Aufruf" erfolgte, brach ein regelrechter Tumult aus. Die Jugendlichen, die vorher alle Zeit der Welt ihr eigen nannten und ohne jedes Gedrängel gemütlich die Kontrollen hätten durchlaufen können, wirkten nun wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Alles lief konfus durcheinander, der eine suchte seinen Koffer, die andere vermisste ihren Pass, ein Dritter wurde fast von seinen verabschiedungswütigen Verwandten erdrückt und alle sollten ja auch noch kontrolliert und eingecheckt werden.
Die Folge war, dass der Madrid-Flieger mit 15minütiger Verspätung abhob, was dann auch meinen Barcelona-Flieger nicht pünktlich starten ließ.

In Barcelona würde mein Gepäck automatisch von einem Flieger in den anderen (nach Hannover) umgepackt werden, ohne dass ich mich darum zu kümmern brauche. So versicherte es mir jedenfalls der Iberia-Bedienstete bei der Aufgabe meines Koffers. Vorsichtshalber begab ich mich aber doch im barcelonischen Ankunftsbereich zum Koffer-Laufband, um mich davon zu überzeugen, dass mein Gepäck darauf nicht Karussell fährt statt mit mir nach Hannover zu fliegen. So stand ich also und beäugte bis zum letzten Stück die vorbeiziehende Kofferparade. Dies wiederum rief den Argwohn eines spanischen Wachmannes hervor, der mich wohl am liebsten als auf frischer Tat ertappten islamistischen Bombenleger zur Strecke gebracht hätte.
Ich hatte zwar gut damit zu tun, ihn und weitere herbeigeeilte Wachleute unter Vorlage meiner Papiere von meiner Unschuld und Friedfertigkeit zu überzeugen, war aber doch mehr beruhigt als ungehalten wegen des Misstrauens. Besser zweimal zu viel kontrolliert als einmal zu wenig.

Während des Rückfluges - so hatte ich es mir jedenfalls vorgenommen - wollte ich mir mein Pilger-Abenteuer zusammenfassend durch den Kopf gehen lassen, mich prüfen, ob ich ein besserer Mensch geworden sei, zu Gott gefunden habe, ob mir insgesamt die Pilgerei etwas gebracht hat.
Doch im Flieger war alles noch zu frisch, um schon gedanklich beleuchtet und als verifiziert in einen Gedankenordner abgeheftet werden zu können. Ich würde den Camino noch bis zu seinem Ende in Santiago de Compostela und weiter bis Finisterre gehen müssen, um Klarheit in Gedanken bringen zu können, die in einem Nebengemach meines Hirnkastels diffus umeinander wabern.   
Und was Gott angeht, so habe ich ihn ja recht eigentlich nie verloren. Die Sicht auf ihn ist lediglich zeitweise durch irgendwelche blöden religiösen Dogmen verstellt. Ich überwinde diesen Unfug und sehe Synagoge, Kirche, Moschee oder Pagode als Angebot eines besonderen Ortes zum Danken und Bitten (Beten). Ob und wie ich dieses Angebot nutze, ist eine Sache zwischen Gott und mir. Die religiösen Dogmatiker gleich welcher Ausrichtung sollen mir gestohlen bleiben.

Ich freue mich schon sehr auf eine sternenklare Nacht am Meer bei Finisterre.

 

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Fußnote

Das Oberhaupt der katholischen Kirche hatte am 12.9.2006 in der Universität Regensburg aus einem mittelalterlichem Streitgespräch zwischen dem byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaeologos und einem persischen Theologen zitiert. „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“, zitierte er den Kaiser. Der Papst hatte das eine „erstaunlich schroffe“ Art und Weise genannt, die Frage nach dem „Verhältnis von Religion und Gewalt“ zu stellen. Er zitierte einen Herausgeber der Reflexionen des Kaisers mit den Worten, der muslimische Gott sei „an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit“.

Der Chef der türkischen Religionsbehörde, Ali Bardakoglu, sagte nach Angaben der Agentur Anadolu, die Papst-Äußerungen müssten zurückgenommen werden. Benedikt XVI. habe eine „Kreuzfahrermentalität“ und eine „feindselige Haltung“ an den Tag gelegt. Die Christen sollten erst einmal erklären, wie ihre Religion mit der Vernunft in Einklang gebracht werden könne.

Der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, sagte der Zeitung „Tagesspiegel“, es falle ihm „schwer zu glauben“, dass der Papst „gerade im Verhältnis zur Gewalt die Grenze zwischen Islam und Christentum“ sehe. Schließlich sei auch die Geschichte des Christentums blutig gewesen - „man denke nur an die Kreuzzüge oder die Zwangsbekehrungen“.